Von Oma, Eco und Derrick:Rolltreppe ins Mittelmaß

Lesezeit: 5 min

Warum wir einfach nicht bei Karstadt einkaufen können.

Max Scharnigg

Das ist eine Geschichte über drei alte Leute. Und zwar über Umberto Eco, Derrick und meine Oma. Letztere hat sich, seit Opa nichts mehr hört, angewöhnt, bei mir anzurufen, um durchzugeben, was sie gerade im Fernsehen gesehen hat.

Unlängst sagte sie: "Karstadt ist pleite! Wie viel Geld ich da schon hingetragen habe!" Oma findet es unmöglich, dass die Menschen ihr Geld woanders als im Kaufhaus ausgeben. "Wo denn sonst? Es gibt da doch alles." Sie hat beschlossen, die Pleite der Karstadt-Quelle-Gruppe persönlich zu nehmen.

Es hätte auch keinen Zweck, mit ihr durch die Fußgängerzone zu laufen und ihr zu zeigen, wo die Leute ihr Geld ausgeben, ihr die schwedischen Modeketten und die Elektrogroßmärkte zu zeigen (deren aggressive Werbung sie immerhin "zum Kotzen" findet).

Sie würde das gar nicht sehen. Genau, wie sie nicht sieht, dass ich seit 15 Jahren keine Briefmarken mehr sammle und schon gar nicht ihre ollen BRD-Standardmarken. Für sie bedeutet Fußgängerzone nun mal das Kaufhaus am Eck, das da seit 40 Jahren steht, das Café und der Leierkastenmann, der da seit 40 Jahren nicht mehr steht. Sonst nichts. Wie früher eben.

Veloursweste und Trinktütchen

Früher, wenn Oma uns am Bahnhof abholte, sagt sie zu Mama immer gleich Sätze wie "Beim Thallmair habe ich mir eine Veloursweste zurücklegen lassen."

Sie sagte nie Hertie oder Karstadt, weil sie noch wusste, wie der Besitzer des Kaufhauses hieß. Einmal pro Oma-Aufenthalt durften wir Kinder mit ihr ins Kaufhaus, und Mama musste sich einen schönen Nachmittag allein machen. Bevor wir losgingen, steckte Oma Bonbons ein und seltsame Trinktütchen. Das war eigentlich das BergwanderungsProgramm, das da bei ihr ablief.

Der Deal vor Ort war, dass wir erst in die Kindermodeabteilung gingen und uns behängen ließen. Oma wedelte mit Anoraks, Nicki-Pullis und Kordhosen und ging mit in die Umkleidekabine, die dann ziemlich klein war und Oma ziemlich nah.

Während sie meine Schwester und mich schmückte, ratschte sie mit den Verkäuferinnen, die so alt aussahen wie sie. Wenn sie zu lang ratschte, versteckten wir uns in den Drehständern, was ganz gut ging, und einmal ließ Oma uns tatsächlich über Lautsprecher ausrufen. Da haben wir aber geweint.

War die Kindermode abgehakt, ging es endlich einen Stock höher zur Spiel- und Sportabteilung. Bis Oma und ihr Geldbeutel dort einschwebten, dauerte es ein bisschen länger, denn sie wartete beim Aufspringen auf die Rolltreppe, bis sie eine "ganze Stufe" erwischte, auf der sie sicher in den zweiten Stock reiten konnte. Sie fuhr großartig Rolltreppe.

Wir waren immer an einem Freitag im Kaufhaus, das weiß ich noch, denn hinterher durften wir fernsehen und zwar "Derrick". Oma war nämlich nicht nur Kaufhaus-Fan, ihr Herz schlug auch ausdauernd für Horst Tappert mit den zerfließenden Augen.

Wir Kinder glotzten natürlich mit, bis uns die Augen ebenfalls zerflossen, und Opa schnarchte. Daheim durften wir das schließlich nie: Sachen mit Mord anschauen. Es war allerdings nicht ganz klar warum, denn Derrick war unendlich langweilig.

Hätte ich den Begriff Spannungsbogen damals schon gekannt, ich hätte ihn angesichts dieser Ermittlungen geleugnet. Täter und Mitwisser schauten von vornherein böse drein, kein Problem, Opa den Namen gleich ins Ohr zu schreien. Auch sonst war das trostloses Fernsehen.

Alle hatten da teigige Gesichter, Pullover und Schuhe in der Farbe beige, und der Rest war eine einzige matt abblätternde Häuserfassade. Oma fand das klasse.

Tempel der Mittelklasse

Viele Jahre nach meinem letzten Oma-Kaufhaus-Derrick-Tag las ich eine Kolumne des italienischen Publizisten Umberto Eco, in der er der Anziehungskraft des Mittelmaßes auf die Spur kommt -- anhand der Serie "Derrick".

Die Italiener lieben Derrick, genau wie meine Oma. Das kam Umberto Eco aus den erwähnten Gründen komisch vor. Er vermutete, es wäre wohl die unterdrückte Mittelmäßigkeit in uns allen, die in dieser Mittelmaß-Serie befriedigt wird.

Jetzt und hier, Deutschland im Herbst 2004, ist Mittelmäßigkeit ein Schimpfwort geworden. Derrick selber taucht nur noch in einer Superlativ-Show namens "Die 100 nervigsten TV-Serien" auf.

Und Kaufhäuser, die Tempel der Mittelmäßigkeit, müssen dichtmachen, weil keiner mehr denkt wie meine Oma. So sehr es ihr immer noch als überquellende Nachkriegs-Bonbonniere vorkommen mag, heute ist ein Kaufhaus klassischen Zuschnitts wahlweise zu klein oder zu groß, um uns, die dynamisch-hysterischen Konsumenten, zu beruhigen. Keiner will mehr mittel sein, aber gerade im Kaufhaus ist alles nur so mittel.

Alles irgendwie schon da

Ich hätte Lust, Oma anzurufen und ihr das zu erklären. Zu erklären, dass wir ja eigentlich ohnehin nur noch drei Sachen einkaufen: Nahrung, Kleidung und Elektroschrott.

Alles andere (Vorhangstangen, Salatschüsseln, Käfige etc.) ist irgendwie schon da. Es fehlt jedenfalls nicht. Für Nahrung, Kleidung und Elektroschrott müssen wir aber auch nicht ins Kaufhaus. Keiner käme wirklich auf die Idee, den neuesten Elektroschrott im Kaufhaus zu erstehen.

Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens die unterschwellige Angst, es könnte in der mittelgroßen Abteilung nicht den wirklich allerneuesten Elektroschrott geben. Weil es nicht containerhallig genug ist und die Verkäufer nicht jünger sind als man selbst, vielmehr so aussehen, als hätten sie noch den holzvertäfelten Fernseher in der Hinterhand.

Zweitens steht der neueste Elektroschrott in vielen Fällen schon daheim, weil wir beim Lebensmittel-Discounter waren und uns dort die größten Displays für das kleinste Geld in den Wagen legten. Neben die Gurken, die so herrlich prall sind vom belgischen Kondenswasser.

Damit erübrigte sich auch gleich die Lebensmittelabteilung im Tiefgeschoss des Kaufhauses, gemeinhin die einzige Abteilung, die noch Grandezza ausstrahlte und deshalb, nebenbei gesagt, alle anderen Stockwerke vor den Kopf stößt.

Was Sache Nummer drei, die Kleidung, anbelangt, so entströmt den Kaufhaus-Modeetagen das mittelklassige Feeling schon aus den Markennamen. Die heißen: Inscene, T-Bone, Tom Tailor, Globus, US40, und Timezone. Namen wie Styropor. Die Mode, die sich unter diesen Labels strickt, ist nicht nur deswegen untragbar.

Sie erfüllt nicht mehr als eine mittelständische, -europäische und -preisige Bekleidungsnorm. Bei Derrick und bei meiner Oma ist das okay, alle hysterisch-dynamischen Konsumenten von heute würgt darin der ungefütterte Individualismus.

Alles andere, was sich im Vorbeifahren von der Rolltreppe erahnen lässt, ist auch nur mittel: die Auswahl in der Buchabteilung, das Essen im Kaufhaus-Restaurant. Was in der Schuhabteilung steht, ist erfreulicherweise noch ein bisschen schlimmer als mittel, und bei "Küche und Hausrat" kosten die Pfannen immer 29 Euro, was gleichzeitig zu billig und zu teuer ist -- das muss man erst mal schaffen.

Zwischen H&M und D&G

Bei ihren Bemühungen, den deutschen Mittelstand auszustatten, haben die Kaufhausbestücker übersehen, dass sich der Mittelstand im Zuge nationaler Krisenstimmung aufgelöst und quasi als Protestkäufer in die extremen Konsumlager aufgeteilt hat.

Entweder Marke oder Trash, teuer oder billig, Schnäppchenmarkt oder Handy-Nerz. Beides ist gesellschaftlich problemlos zu goutieren, nicht aber etwas dazwischen, das nach nichts aussieht, deutlich mehr kostet und nach deutlich weniger klingt.

Ob Billigoasen wie H&M und Ikea verpönt sind oder Gucci und D&G versnobt, ist ja längst nicht mehr die Frage. Sie bezeichnen lediglich Befindlichkeiten und werden nach Tagesform vertauscht. Das heißt, die Sätze "Ich bin gerade pleite, deswegen kaufe ich jetzt wieder ein bisschen mehr bei H&M ein" und "Ich fühle mich mies, ich schau besser noch mal in den neuen Ralph-Lauren-Store" tönen uns beide sehr vernünftig.

Der Satz "Heute leiste ich mir was im Kaufhaus" verstört hingegen zutiefst. Was ist damit gemeint? Wofür zur Hölle steht eigentlich das Kaufhaus? Keiner weiß es.

Nur meine Oma. Die würde sagen, Kaufhaus steht für Beruhigung. Denn was könnte beruhigender sein als ein Ort, der alles aufreiht, was es für Geld zu kaufen gibt.

Wo einem am Eingang warme Luft in den Kopf geblasen wird und man verloren gegangene Kinder einfach über den Lautsprecher wieder einfangen kann? Schade nur, dass sich diese Kinder heute nichts sehnlicher wünschen, als endlich mal richtig verloren zu gehen.

© SZ vom 11.10.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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