Vernetzte Fabrik:Inge, Lisa und die Lämpchen

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Ein mobiler Logistikassistent im Werk Graben-Neudorf von SEW Eurodrive. Er kann Lasten von bis zu 1,5 Tonnen transportieren. Genau genommen ist es eine "Sie", denn die Mitarbeiter haben den Geräten Namen gegeben: Sie heißen Inge oder Lisa. (Foto: SEW-Eurodrive)

Industrie 4.0, Internet der Dinge - darüber wird viel geredet, aber wie sieht das im Alltag aus, ganz konkret? Ein Besuch bei zwei Firmen, deren Produktion bereits vernetzt ist.

Von Elisabeth Dostert, Graben-Neudorf

Uwe Moos, 49, ist heute "Dirigent der Wertschöpfung". Er steht vor drei Bildschirmen. Er weiß, was gerade auf seinen sechs Montageinseln los ist. Im Werk Graben-Neudorf des Familienunternehmens SEW-Eurodrive werden Getriebemotoren montiert. Auf seinen Bildschirmen kann Moos sehen, wie hoch die Stückzahlen sind. Die Farbe Grün signalisiert: Auftrag erfüllt. Gelb, es läuft. Rot kritisch. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, dass Moos ein paar Mitarbeiter von Insel vier zu Insel sechs dirigiert. Um 14 Uhr geht seine Schicht zu Ende. Dann sollten die Zahlen auf seinem Bildschirm grün leuchten.

Moos dirigiert die smarte Fabrik von SEW-Eurodrive. Sie zeigt den Stand der Dinge in der Fabrik, ein Stück vollständig vernetzter Produktion, Industrie 4.0. Die digitale Produktion ist eine Facette des Internet of Things, in dem alle Dinge miteinander vernetzt sind und sich die Fabrik vollgepackt mit Informationstechnologien selbst steuert. Die Fabrik ist Zukunft.

In jeder Insel arbeiten ein, zwei oder drei Mitarbeiter, je nachdem wie groß das Auftragsvolumen ist, erläutert Johann Soder, er ist der für Technik zuständige Geschäftsführer der auf Antriebstechnik spezialisierten Gruppe mit 2,7 Milliarden Euro Umsatz im Geschäftsjahr 2015/2016 und 16 300 Mitarbeitern weltweit. Soder hat sich die Inseln ausgedacht. Er freut sich an Begriffen wie "Dirigent der Wertschöpfung". Das klingt nach Musik und Harmonie, einer perfekten Komposition. So muss das auch sein in der smarten Fabrik. Jürgen Heidemann, 57, Industriemechaniker, steht alleine in seiner Insel. Auf dem Montageassistenten vor ihm, der ungefähr die Ausmaße eines Flugzeugtrolleys hat, liegt ein Motorgehäuse, es trägt einen RFID-Chip. Das Kürzel RFID seht für Radiofrequenz-Identifikation, die Identifizierung per Funk. Heidemann lädt den nächsten Auftrag vom Computer herunter. Er legt ein DIN-A4-Blatt auf den Assistenten. Nur zur Sicherheit, falls die drahtlose Übertragung zwischen den Dingen mal nicht funktioniert. "In den Inseln ist viel Metall verbaut, das stört manchmal", sagt Soder.

Ein kleines Lämpchen leuchtet auf. Heidemann legt das Gehäuse auf den Arbeitstisch, greift nach einem Bauteil, montiert es, und das Lämpchen erlischt. "Wir nennen das Pick-to-light", erläutert Soder. Das Lämpchen signalisiert, welcher Handgriff als nächster zu erledigen ist. Würde Heidemann nach dem falschen Bauteil greifen, würde der gesamte Fertigungsprozess in dieser Insel gestoppt. Es ist nur Hilfe. Heidemann ist ein erfahrener Mann. "Die Arbeit ist hier leichter", sagt er. Er müsse keine schweren Teile mehr heben wie früher. Er drückt einen Knopf am Montageassistenten, und der Wagen mit dem Gehäuse folgt ihm zur nächsten Arbeitsstation. Für den Job in der Schaufensterfabrik hat er sich selbst beworben. "Ich bin ein neugieriger Mensch", sagt Heidemann.

Es gibt mobile Assistenten für alles. Niedrige Logistikassistenten bringen Komponenten zu den Inseln. Die Mitarbeiter haben ihnen Namen gegeben: Inge, Frida, Lisa. Bis zu 1,5 Tonnen Gewicht können die Assistenten tragen. Auch sie sind vollgepackt mit Sensoren. Soder stellt sich Frida in den Weg, und das Gerät hält an. Er lacht.

"Der Mensch wird in den digitalen Fabriken nicht überflüssig. Die Aufgaben werden spannender."

Soder ist 60 Jahre alt und Elektroingenieur, er arbeitet seit mehr als 46 Jahren für SEW-Eurodrive. Er trägt Anzug, weißes Hemd, Krawatte. Er ist nicht auf Facebook und Twitter. Soziale Netzwerke sind ihm eher suspekt. Er sieht nicht aus wie ein Nerd, aber in seiner Leidenschaft für Technik steht Soder den Computerfreaks nicht nach. In seinem Berufsleben hat sich die Produktion total gewandelt. Als er seine Lehre machte, in den 70er-Jahren, da wurde in den Fabriken noch in starren Produktionslinien gearbeitet mit einem Höchstmaß an Arbeitsteilung. In den heutigen Inseln kann ein Mitarbeiter ein komplettes Getriebe bauen. In den 80er-Jahren, da studierte Soder, habe man schon einmal versucht, die Produktion über Computer intelligent zu vernetzen. CIM hieß das damals: Computer Integrated Manufacturing. "Aber das ging schief", so Soder: "Damals waren die Rechner noch nicht so leistungsfähig und störanfälliger. Rechenleistung ist heute viel billiger." Die ersten Ansätze für Industrie 4.0 habe es 2011 gegeben. 2013 hat Soder die erste Insel in Graben-Neudorf aufgebaut. Die Mitarbeiter gestalten ihre Insel selbst und bauen sie erst einmal aus Pappschachteln, Cardboard-Engineering nennt sich das. Irgendwann in nicht mehr allzu ferner Zukunft sollen alle Werke von SEW überall auf der Welt so arbeiten und über Grenzen miteinander vernetzt sein. "Wenn wir stabile und sichere Datenverbindungen haben." Vielleicht wird Soder da schon in Rente sein. "Der Mensch wird in den digitalen Fabriken nicht überflüssig. Aber die Aufgaben werden spannender", sagt Soder.

So sieht das auch Theodor Niehaus, er ist Vorstand der Festo Didactic SE: "Die Robotik gibt sich in die Hand des Menschen, nicht der Mensch ist Sklave des Roboters, es ist umgekehrt." 42 000 Teilnehmer besuchten im vergangenen Jahr die technischen Seminare von Festo Didactic, Kurse für Hydraulik, Pneumatik, Instandhalter, Prozessoptimierer oder Führungskräfte. Die Firma mit 900 Mitarbeitern und gut 150 Millionen Euro Umsatz gehört zur Festo-Gruppe mit weltweit 2,45 Milliarden Euro Umsatz und 18 000 Mitarbeitern. Sie liefert pneumatische und elektrische Automatisierungstechnik. "Nur mit Qualifizierung erreichen wir, dass Deutschland seinen Wettbewerbsvorteil als Fabrikausrüster der Welt behält", sagt Niehaus. Deshalb betreibt der Konzern weltweit vier Lernzentren, in denen die eigenen Mitarbeiter und Kunden ausgebildet werden, und die Lernfabrik am Stammsitz in Esslingen. "Das Thema Mensch kommt manchmal zu kurz", sagt Niehaus: "Aber wir brauchen smarte Menschen für die smarte Fabrik. Maschinen sind nichts ohne Menschen, die sie steuern und weiterentwickeln."

"Eine Montagelinie hat heute 450 IP-Adressen. So viel hatte früher ein ganzes Werk."

In Esslingen sind Produktion und Qualifizierung nah beieinander. In vier Trainingsräumen können die Mitarbeiter an Produktionsanlagen, die im Kleinen denen in der Halle nachgebildet sind, üben und Probleme lösen. "Eine Montagelinie hat heute 450 IP-Adressen. So viel hatte früher ein ganzes Werk", sagt Niehaus. Das Lernen endet nicht mit der Ausbildung oder dem Studium, es wird zur Berufslebensaufgabe. Die Mitarbeiter können Lerneinheiten von 20, 30 Minuten buchen in einem der Trainingsräume der Lernfabrik.

Es gibt einfache und schwierige Aufgaben. Ein Wasserkocher und ein Gerät, das den Stromverbrauch misst, genügen, um Menschen Energieverschwendung und Überproduktion zu erklären. "Früher lief der Betriebselektriker mit dem Lötkolben durchs Werk, heute mit dem Tablet", sagt Niehaus. Instandhalter, das sind Männer und Frauen, die in den Fabriken die Maschinen warten, müssten heute "in Echtzeit" Daten auswerten. Viele Probleme lassen sich künftig nur noch im Team lösen. "Wir werden in Situationen kommen, wo wir keine festen Lösungswege haben und wir Google nicht bemühen können, weil es dieses Problem noch nicht gegeben hat. Solche Probleme lassen sich künftig nur interdisziplinär lösen."

© SZ vom 27.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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