Urteil in Versailles:Wie eine Milliarden-Schuld implodiert

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4,9 Milliarden Euro sollte der Börsenhändler Jérôme Kerviel an seinen Arbeitgeber zurückzahlen. Nun ist es deutlich weniger.

Von Leo Klimm, Versailles

Im Moment seines größten Triumphs wirkt Jérôme Kerviel erstarrt. Regungslos blickt er den Richter an, der gerade er erklärt, Kerviel sei nur "teilweise verantwortlich" für den Verlust von 4,9 Milliarden Euro, den die Pariser Großbank Société Générale Anfang 2008 in einem spektakulären Finanzskandal erlitten hat. Das Gericht verurteile ihn zu einem Schadenersatz von einer Million Euro an das Geldhaus. Nur eine Million. Nach früherer Rechtsprechung musste er der Bank, deren Geld er einst verzockt hat, die ganzen 4,9 Milliarden Euro ersetzen. Eine monströse, absurd hohe Summe. Kerviel war allein schuld. Seit Freitag ist das alles anders. Die Bank muss eine heftige Niederlage einstecken, die sie in der Folge sogar noch weitere Milliarden kosten könnte.

Nach dem Urteil muss Kerviel erst einmal hinaus, in den Hinterhof des Berufungsgerichts von Versailles, eine rauchen. Er hatte sich wohl noch mehr erhofft. Dann sagt er: "Ich hoffe, irgendwann bei null Euro Schadenersatz anzugelangen. Ich bin der Meinung, dass ich Société Générale nichts schulde."

Es geht ums Geld, natürlich. Und darum, dass die Bank, die Kerviel früher erfolgreich als alleinschuldigen Einzeltäter hinstellte, Mitverantwortung trägt an einer Milliardenspekulation, die sie an den Rand den Ruins brachte. In ähnlichen Affären - etwa bei UBS, Goldman Sachs oder Citi - wurde ebenfalls die These vom virtuosen Solo-Zocker vertreten. Im Fall Kerviel gilt: Er mag allein gehandelt haben. Allein verantwortlich ist er nicht. Nähme man die Verringerung der Schadenersatzsumme zum Maßstab, wäre sogar hauptsächlich die Bank verantwortlich.

Seit der Skandal vor bald neun Jahren aufflog, führt Kerviel mit Société Générale einen erbitterten Kampf vor den Gerichten und in den Medien. Kerviel, heute 39 Jahre alt, ist gezeichnet von diesem Kampf. Tiefe Falten und dunkle Augenringe haben sich in das Gesicht des Ex-Traders gegraben. Aber: Kerviel wirkte nicht mehr so gebückt wie in den ersten Prozessen, als er nur auf seinem Angeklagtenstuhl kauerte. Es waren die Prozesse gegen ihn. Heute ist es umgekehrt: Er ist es, der das Geldhaus verklagt. Er erreichte, dass der Schadenersatz wegen nachgewiesener Mängel bei den internen Kontrollen der Bank neu verhandelt werden musste.

Der stille junge Mann saß einst am Handelsdesk und begann irgendwann, viel mehr auf Aktien und Derivate zu wetten, als ihm erlaubt war - bis zu 50 Milliarden Euro. Dazu nutzte er Passwörter von Kollegen und fingierte vorgeschriebenen Sicherungsgeschäfte, ohne sich allerdings selbst zu bereichern. Kerviel sagt, die Vorgesetzten hätten das stillschweigend toleriert, solange er Gewinn machte. Société Générale bestreitet das. Die Affäre kostete den damaligen Vorstandschef den Job.

Das Institut musste auch mit einem Steuerbonus von rund 2,2 Milliarden Euro vom Staat gestützt werden. Dieses Geld könnte es nun womöglich erstatten müssen. Frankreichs Finanzministerium erklärt, es könnte die Rettungsmilliarden zurückfordern. Die Anwälte von Société Générale wiegeln ab: Um die Rückzahlung zu rechtfertigen, sei vorsätzliches Verschulden der Bank nötig. Was nicht der Fall sei.

Kerviel sagt: "Dieser Skandal war nie eine Affäre Kerviel, es war immer eine Affäre Société Générale." So, wie das Geldhaus den Mythos von der Alleinschuld unterhielt, bemüht er den Mythos vom David Kerviel gegen den Goliath Großbank. Zu dieser Erzählung passt, dass er anfangs alle Prozesse verlor - bis hin zur Verurteilung zu fünf Jahren Haft, von denen er aber nur wenige Monate absitzen musste.

"Die Entscheidung von heute gibt mir Energie, den Kampf weiterzuführen", sagt Kerviel in Versailles. Er strebt als nächstes die Aufhebung des Strafurteils gegen ihn an. Doch hier sind die Aussichten bescheiden. Strafrechtlich wurde Kerviel in allen Instanzen verurteilt. Und dass er nicht allein verantwortlich ist, heißt nicht: unschuldig.

© SZ vom 24.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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