Unternehmen entdecken die Potenziale der neuen Bundesländer:Flott, flexibel, ostdeutsch

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Viele Menschen aus der ehemaligen DDR haben einen Lebenslauf voller Brüche - 15 Jahre nach der Wiedervereinigung stellen Personalmanager sie gerade deshalb ein.

Christiane Kohl

Sebastian Ringleb ist ziemlich früh aufgestanden. Der Junge aus dem Dorf Niederorschel, das im Eichsfeld im Norden Thüringens liegt, musste dreieinhalb Stunden mit dem Auto fahren, um hierher zu kommen. Jetzt steht der 19-Jährige mit seinem Rucksack im Foyer des Arbeitsamtes der Stadt Suhl im Thüringer Wald, wo heute ein ungewöhnliches Ambiente die Besucher lockt: Fischernetze sind aufgehängt, aus einem Lautsprecher scheppert Seemannsmusik, und rundum haben sich Firmen von der Waterkant postiert.

Ein Mitarbeiter der Firma Siemens reinigt im Siemens-Turbinenwerk Goerlitz Teile einer Dampfturbine. (Foto: Foto: ddp)

Da wirbt eine Ostsee-Werft um neue Mitarbeiter, Reedereien aus Hamburg suchen Personal für ihre Kreuzfahrtschiffe. Mittendrin hat die Fischbrötchen-Kette "Nordsee" ihren Stand -- das Unternehmen, das in Bremerhaven beheimatet ist, bietet Ausbildungsplätze für arbeitshungrige junge Leute.

"Grundsätzlich nicht mehr übernommen"

Ringleb sucht genau das. In seinem Rucksack hat der Junge drei sauber bedruckte Bewerbungsmappen stecken, er möchte Koch werden. Ringleb hat schon eine dreieinhalbjährige Ausbildung zum Biologie-Laboranten hinter sich. Doch die fand in einer Klinik statt, die zum Öffentlichen Dienst gehört, und "da wird man heute grundsätzlich nicht mehr übernommen", sagt der junge Mann.

Seit Januar 2005 ist Ringleb nun arbeitslos, der Koch-Beruf, findet er, "passt doch gut zur Biologie". Doch der Ausbildungsleiter der "Nordsee"-Kette Bernd Wolter, ein gemütlich wirkender, etwas rundlicher Mann, kann ihm nicht helfen: Erst nächstes Frühjahr werden in den Fischrestaurants wieder Lehrlinge angenommen. Zu spät für den jungen Mann aus dem Eichsfeld.

Ringleb zieht mit seinem Rucksack weiter zu einem anderen Stand. Ausbildungsleiter Wolter aber lobt die Menschen, die ihm hier begegnen, in höchsten Tönen. "Wir haben schon ganz tolle Erfahrungen mit Leuten aus den neuen Bundesländern gemacht", berichtet er: "Sie sind mobil, flexibel und viele haben eine relativ hohe persönliche Reife."

Wolter ist wie die anderen Firmenvertreter nach Suhl gekommen, weil die dortige "Agentur für Arbeit", wie das Arbeitsamt heute heißt, eine Art Jobbörse organisiert hat. Zwar ist die Arbeitslosigkeit in Suhl, das einstmals von der Waffenindustrie dominiert wurde, mit 13,5 Prozent für ostdeutsche Verhältnisse relativ niedrig.

"Doch 32.000 Arbeitslose sind immer noch zu viel", meint Roland Mahler, der Sprecher des Amtes. Deshalb starteten die Mitarbeiter jetzt eine Initiative, um den Bewohnern Zugang zu neuen Arbeitsplätzen zu eröffnen. Unter dem Motto "Meer Arbeit" luden sie vornehmlich Firmen aus dem See- und Schifffahrtsbereich in den Thüringer Wald. "Viele dieser Unternehmen sind auf Expansionskurs", berichtet Mahler, "die können auch Leute aus dem tiefsten Binnenland für die Seefahrt gebrauchen".

Am Ende der Veranstaltung zeigen sich die Vertreter der Firmen hoch begeistert. Da sitzt ein graumelierter Herr, der selbst wie ein Steward aussieht, vor der edel bedruckten Kulisse der Peter Deilmann Reederei, die unter anderem das ZDF-"Traumschiff" betreibt.

"Gutes Personal ist unser wichtigstes Pfand", sagt Klaus H. Block, der "Direktor für die menschlichen Ressourcen" bei der Reederei. Die jungen Leute, mit denen er in Suhl gesprochen habe, seien "hoch motiviert", urteilt Block: "70 Prozent von ihnen könnten in der nächsten Saison auf einem unserer Kreuzfahrtschiffe dabei sein."

Nicht nur die Nordlichter unter den deutschen Personalchefs loben die Qualitäten von Arbeitskräften, die aus den ostdeutschen Bundesländern stammen. Auch in den Führungsetagen vieler Unternehmen, die sich im Osten Deutschlands niederließen, wird das Hohelied auf die örtlichen Mitarbeiter gesungen: Die meisten von ihnen seien flott, flexibel und von ihrer Grundausbildung her äußerst fit, heißt es immer wieder.

So lobt etwa Rudolf Reichenauer, der Personalchef des neu errichteten BMW-Werks bei Leipzig, den "sehr guten Ausbildungsstand, vor allem der Frauen". Und Hans-Raimund Deppel, der Geschäftsführer im Dresdner Mikroprozessorenwerk des amerikanischen Chipherstellers Advanced Micro Devices (AMD), schwärmt: "Wir schreiben hier eine einzige Erfolgsstory, und das haben wir vor allem den Mitarbeitern zu verdanken."

Orangefarben gestrichene Metallarme wirbeln durch die Luft, goldglitzernde Greiffinger schnellen vor und zurück und von unsichtbaren Magneten gesteuerte Transportwägelchen rollen über die auf Hochglanz geschliffenen Betonböden.

"Biografien der Menschen richtig lesen"

Im Leipziger BMW-Werk ist beinahe alles vollautomatisch. Doch die Männer und Frauen, die sich in ihrer Arbeitsuniform aus hellblauen T-Shirts und grauen Latzhosen zwischen den Robotern bewegen, hat Personalchef Reichenauer gleichsam handverlesen. "Wir haben eine Weile gebraucht, um die Biografien der Menschen hier richtig zu lesen", sagt der BMW-Manager, dann aber habe man die besonderen Qualifikationen darin entdeckt: "Was viele hier auszeichnet, sind die im Vergleich zu Westdeutschen höchst unterschiedlichen Lebensläufe", meint Reichenauer.

Häufig wiesen Bewerber eine starke Unstetigkeit in ihrem Lebenslauf auf, in den letzten 15 Jahren, als allerorten die Firmen zusammenbrachen in der ehemaligen DDR, hatten sie öfter die Stelle wechseln müssen und auch Zeiten der Arbeitslosigkeit erlebt.

Manche Bewerbungen, berichtet der Personalchef, hätten einen regelrechten Zickzack-Kurs erkennen lassen. Aber das genau habe die Menschen gestählt, glaubt Reichenauer: "Bedingt durch die Umstände mussten sie geistig fit bleiben." Aus der Not, trotz zusammenbrechender Firmenlandschaften zu überleben, hätten viele Menschen Qualifikationen entwickelt, die jetzt sehr wertvoll für die Betriebe seien, meint der Personalchef: "Wir stellen einen hohen Grad an fachlich solider Ausbildung bei den Menschen fest, viel Bereitschaft zum Umlernen und eine sehr starke geistige wie auch örtliche Flexibilität."

Das brauchten wohl viele Leute im Osten auch, fürs nackte Überleben. Da ist beispielsweise die Mitarbeiterin eines Dienstleistungsunternehmens der Sozialbranche in Schmalkalden bei Suhl, die ihren Namen nicht nennen möchte: Ursprünglich war sie technische Zeichnerin gewesen, dann hatte sie sich zur Ingenieurin weitergebildet. Zu DDR-Zeiten arbeitete die Frau, die heute 47 Jahre alt ist, in einem Heizungsbaubetrieb. Zwei Jahre nach der Wende gehörte sie von den einstmals 800 Mitarbeitern dann zu den letzten 20 Beschäftigten, die noch verblieben waren, als der Betrieb schließlich doch geschlossen wurde.

Sie versuchte sich als Selbstständige mit einer Weinhandlung, doch das ging schief: "Die Leute kauften zu wenig Wein." Daraufhin ließ die Frau sich zur Betriebswirtin umschulen und ging in den Fremdenverkehr. Tatsächlich fand sie auch eine Anstellung in einem Reisebüro, nach einiger Zeit wurde ihr Monatsgehalt jedoch plötzlich nicht mehr bezahlt. Andere Reiseunternehmen schienen nicht vertrauenswürdiger zu sein. So lernte die Frau noch einmal um, und heute macht sie in ihrer Firma arbeitslos gewordenen Menschen Mut.

Auch Roland Mahler, der Sprecher der Suhler Arbeitsagentur, blickt auf eine Zickzack-Biografie zurück. "In der DDR war es eigentlich nicht üblich, den Posten zu wechseln", meint er. "Nach der Wende aber mussten das viele Menschen lernen." Mahler war ursprünglich Elektriker von Beruf, später, noch zu DDR-Zeiten, saß er im "Rat des Kreises" von Wittenberg und teilte den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften Sprit und Dreschmaschinen zu.

Nach der Wende landete er schließlich über allerlei Umwege beim Arbeitsamt, zunächst als technischer Mitarbeiter, schließlich als Pressesprecher. "Ich habe immer Dinge gemacht, die ich nicht gelernt habe", sagt Mahler. "Wer in der DDR was machen wollte, musste einfach improvisieren." 15 Jahre nach der Wende zahlen sich nun die einst erworbenen Fertigkeiten aus.

Im obersten Stock der Suhler Arbeitsagentur sitzt Wolfgang Dietz, einer der Psychologen im Hause. Er legt den Arbeitssuchenden Fragebögen vor, lässt sie Drähte verbiegen und allerlei andere Aufgaben zu Testzwecken verrichten. "Beim Rechnen und Schreiben haben die Leute heute mehr Lücken als früher", beobachtet Dietz. Auch an ostdeutschen Schulen scheint das Niveau zurückzugehen.

Deshalb ist es vielleicht erklärlich, dass westdeutsche Personalchefs vor allem die älteren Arbeitnehmer preisen. BMW-Personalchef Reichenauer berichtet: "Wir wollten Ältere und wir wollten Frauen, denn deren Ausbildungsstand liegt im Osten traditionell weit höher."Nun beschäftigt der Autohersteller rund 15 Prozent Frauen in der Fabrik, weit mehr als die Konkurrenz. Und der älteste Bewerber, der vor zwei Jahren bei BMW-Leipzig eingestellt wurde, war 59 Jahre alt -- er arbeitet heute bei der Qualitätssicherung.

Firmen wie BMW in Leipzig oder der Chip-Hersteller AMD in Dresden wurden ursprünglich vor allem durch die hohen Fördermittel und die Aussicht auf ein relativ niedriges Lohnniveau angelockt. Doch das, meint AMD-Geschäftsführer Deppel, könne man heute auch andernorts bekommen. Trotzdem baute AMD jetzt eine zweite Fabrik in Dresden, und selbst über eine dritte Fertigungsstätte wird gesprochen.

Der Grund sind die Menschen. "Nirgendwo war die Chip-Lieferung bisher so pünktlich, reibungslos und sauber wie hier in Dresden", berichtet Deppel. Beim Aufbau des Betriebes habe man auf erfahrene Mitarbeiter aus der Chipproduktion der DDR zurückgreifen können. "Die Leute waren hungrig nach Erfolg, sie wollten zeigen, dass sie unter besseren Randbedingungen auch Gutes leisten können", sagt Deppel: "Der Sachse als Tüftler, da ist schon was dran."

Aber auch die Thüringer sind gefragt. Bei dem Aktionstag in der Arbeitsagentur in Suhl am vergangenen Dienstag stellte allein eine Reederei sieben gelernte Köche und zehn Stewards ein. Sebastian Ringleb aber konnte hier keinen Ausbildungsplatz bekommen. Er will sich jetzt in Heidelberg vorstellen, in einem Hotel.

© SZ vom 01.10.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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