Unter Optimierungszwang:Und tschüss

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Was die sinkende Verweildauer der Vorstandsvorsitzenden über den Kapitalismus verrät und was Ökonomie mit der Krise des Ichs zu tun hat.

Ernst-Wilhelm Händler

Michel Foucault hat beschrieben, wie in der Epoche der Aufklärung das Subjekt durch Überwachen und Strafen von seiten des Staats und der Kirche nicht nur geformt, sondern erst produziert wurde. In der modernen Weltgesellschaft hat das Wirtschaftssystem diese Aufgabe übernommen. Niemand wird mehr zu etwas gezwungen. Außer zum Rechnen.

Jürgen Schremp 2001: Die Leistung eines CEO ist niemals eindeutig messbar. (Foto: Foto: AP)

Dafür soll man seinen Vorteil suchen, soll der Optimierungskalkül die Mauern der Kathedralen und Gefängnisse ersetzen. Er produziert den Menschen mit allem, was ihm lieb und teuer ist, was er für seine Werte und seinen Charakter hält. Mit den technologischen Möglichkeiten verschieben sich die Grenzen des Denkbaren. Diese Komplexität kann nicht von Orwellschen Sklaven gemanagt werden. Der Mensch wird zur Individualisierung gezwungen wie die Automobilindustrie zum Angebot einer astronomischen Vielzahl von Modellen.

Zu den heutigen Produktionsbedingungen des Subjekts gehört, dass es sich nur noch als Fluchtpunkt aller Definitions- und Steuerungsbemühungen sieht. Die Krise des Ich in der Literatur und in der Philosophie spielt in den Geisteswissenschaften die Rolle einer DIN-Norm. Die Neurowissenschaftler haben Nietzsche gelesen (oder auch nicht), der darauf bestand, dass sich das Ich erst aus seinen Fähigkeiten ergibt. Im Überwachen und Strafen wurde der Einzelne unterfordert, das globale Wirtschaftssystem aber basiert auf der strukturellen Überforderung.

Keine Räume jenseits des Geldverdienens

Es scheint, als gebe es keine Räume jenseits des Geldverdienens. Die Anforderungen sind nie abgeschlossen, der Wettkampf ist nie zu Ende. Was bleibt vom Subjekt? Der Unterschied zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Als ob das nichts wäre. Das Funktionieren des Wirtschaftssystems basiert nicht auf der Identität der Beteiligten mit sich selbst, sondern auf deren Differenz zu sich selbst. Die Brüche im System sind seine Bausteine.

Es gibt jedes Mal gute Gründe, wenn ein CEO - es heißt wirklich nicht mehr Vorstandsvorsitzender, sondern Chief Executive Officer - nicht mehr weitermachen darf, obwohl er das will. Er will immer. Jürgen Schrempp hat mit der Fusion von Daimler-Benz und Chrysler "eine Hochzeit im Himmel" gestiftet, die die Daimler-Aktionäre rund 40 Milliarden Euro gekostet hat, und er hat sich im sogenannten Premium-Segment von BMW überholen lassen. Der Vertrag von Helmut Panke, CEO von BMW, wurde nicht verlängert, weil er die firmeninterne Altersgrenze von 60 Jahren erreicht hatte.

Eine Firma besteht nicht nur aus dem Management, und Management ist unter anderem eine Teamaufgabe. Die Leistung eines CEO ist niemals eindeutig messbar, die Performance einer Firma kann wegen oder trotz des CEO gut oder schlecht sein. Ist ein Manager ein guter Manager-Darsteller, reicht das manchmal sehr weit. Liegt der Grund für die Ablösung nicht bei dem, der geht, dann findet er sich automatisch bei seinem Nachfolger:

Er ist einfach geeigneter, besser.

Nur das Wachstum zählt

Früher blieb ein CEO in der Regel bis zur Pensionsgrenze im Amt, heute ist das die Ausnahme. Nach einer Studie der Unternehmensberatung Booz Allen Hamilton betrug die Fluktuation für CEOs in Deutschland im vergangenen Jahr 15,4 Prozent, die durchschnittliche Verweildauer lag bei 4,7 Jahren. Weniger als ein Viertel aller Aufsichtsratsmitglieder waren zuvor CEOs, 1995 traf dies noch für 61 Prozent zu. Auch die Karriere nach der Karriere ist für den CEO nicht mehr garantiert.

In Deutschland war Profitmaximierung niemals das Oberziel der großen wie der kleinen Firmen. Die Renditen deutscher Unternehmen sind nach wie vor deutlich geringer als diejenigen amerikanischer oder britischer Konkurrenten. Um die in diesen Ländern undenkbare Mitbestimmung gab es keine wirklichen Auseinandersetzungen. Eins der wichtigsten Ziele war in Deutschland immer die Bewahrung der Identität der Firma: die Eigenschaften, die die Firma und ihre Mitarbeiter charakterisierten, von anderen abhoben, möglichst unverändert weiterzugeben.

Die Firma "durch die Zeiten zu bringen" hatte eindeutig den Vorrang vor der vollen Ausschöpfung der Gewinnmöglichkeiten. Das Kaufen und Verkaufen von Firmenanteilen, die Aufteilung und Verschmelzung von Firmen - solche Operationen bedrohten die Identitäten der Firmen, deshalb waren sie grundsätzlich unbeliebt. Es sei daran erinnert, welches Drama die Fusion von Krupp und Thyssen in den Augen der Beteiligten und der Öffentlichkeit bedeutete. Und so ist die Marktkapitalisierung der börsennotierten deutschen Unternehmen im internationalen Vergleich eher gering.

Die Harmonisierung der EU-Vorschriften in den achtziger Jahren markierte den Anfang vom Ende der abgeschotteten Binnenmärkte, die Einführung des Euro besiegelte ihr Verschwinden in Europa. Der Wegfall des Kommunismus gab ganzen Nationen wieder die Chance auf einen Wettbewerb. Das Internet macht jede Produktinformation und jeden Preis global. Damit fielen Grenzen, der Wahrnehmungs- und Handlungshorizont der Unternehmen erweiterte sich ungeheuer. Firmen und Länder konkurrieren um Standorte, zugleich aber verschob sich auch die Selbstwahrnehmung der Unternehmen.

Abschied vom Thyssen-Mann

Der Manager einer Firma oder eines Fonds, der Kapitaleigner und der Bankanalyst vergleichen Unternehmen, die früher aufgrund räumlicher, zeitlicher und kultureller Differenzen niemals verglichen werden konnten. Hier liegen Ursprung und Rechtfertigung für den Primat des Shareholder Value- auch wenn sich die gierigen Kapitalisten, die es ebenfalls gibt und denen die Erfindung desselben zugeschrieben wird, herzlich bedanken. Unternehmen werden allein nach ihrem finanziellen Wert eingestuft, und das Management soll diesen Wert steigern.

Jegliche Investition in Identität ist nur dann gerechtfertigt, wenn sie diesem Zweck dient. Eine Investition in Identität liegt schon vor, wenn der Wert der Bereiche, in die das Unternehmen aufgeteilt werden könnte, höher ist als der Wert der Firma in ihrer jetzigen Gestalt. Dabei fallen die Identitäten von Produktmarke und vermarktender Firma keineswegs in eins, die vielen bekannten Lebensmittelmarken etwa werden von wenigen großen Konzernen produziert.

Die Marke Mercedes wird es wohl geben, solange es Autos gibt. Aber der Krupp-Mann, der Thyssen-Mann - auf welcher Liste wünschenswerter Eigenschaften, die ein Fonds-Manager erstellt, sollten sie auftauchen? Früher bedeutete ein langgedienter Vorstandsvorsitzender einen Wert an sich. Er verkörperte die Kontinuität des Unternehmens, die Mitarbeiter konnten und sollten sich mit ihm identifizieren. Die einzig angestrebte Kontinuität besteht heute im Wachstum des Unternehmenswerts.

"Es ist eine der Hauptaufgaben des Wettbewerbs, zu zeigen, welche Pläne falsch sind." Als Friedrich August von Hayek dies schrieb, konnte sich niemand vorstellen, wie viel Wettbewerb, wie viele erfolglose Businesspläne und wie viele Opfer des Wettbewerbs es einmal geben würde. In der alten Bundesrepublik waren Arbeitnehmer, die ihren Arbeitsplatz verloren, und Unternehmer, die ihr Unternehmen einbüßten, die Verlierer, für die Spitzenmanager spielte sich der Misserfolg oft glimpflicher ab.

Ein CEO muss kontrolliert werden

Ein moderner CEO hält Anteile an der Firma, er hat Optionsrechte und ist am Erfolg beteiligt. Wenn alle anderen überfordert sind, nur der CEO nicht, dann wären plötzlich alle heimeligen Verschwörungstheorien wahr, die Macht als unvergängliche Macht einiger weniger konstruieren. Der CEO steht als Angestellter an der Spitze einer Hierarchie von Angestellten, aber von ihm wird erwartet, dass er nicht wie ein Angestellter, sondern wie ein Unternehmer handelt.

Der CEO wirtschaftet nicht, wie der Unternehmer, mit eigenem Geld, er muss deshalb kontrolliert werden. Die Kontrolle ist nicht immer erfolgreich. Ein CEO kann kaum größere Fehler machen als Jürgen Schrempp. Hätte ein Hedge-Fonds entsprechende Anteile an Daimler-Benz gehalten, wäre es mit Sicherheit nicht zu der Hochzeit im Himmel gekommen. Aber ein CEO kann auch andere Fehler machen.

Wie seinen Untergebenen und überhaupt allen Wirtschaftssubjekten steht er vor einer unlösbaren Aufgabe: Der kontrollierte Unternehmer ist ein Widerspruch in sich. Die einzige Kontrollinstanz des Unternehmers ist der Markt. Es ist schwierig, die gesamte Strecke bis zur Pensionsgrenze unmögliche Erwartungen zu erfüllen. Die Krise des Ich ist in der Philosophie und den Künsten zuerst reflektiert worden. Ihre reinste Ausprägung erfährt sie in der Ökonomie.

Der Verfasser ist Geschäftsführer einer Metallfirma und Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm "Die Frau des Schriftstellers" in der Frankfurter Verlagsanstalt.

© SZ vom 11. Juni 2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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