Überlastung im Job:"Die Arbeit hat ihn umgebracht"

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Eine Serie von Suiziden erschüttert französische Konzerne. Die Hinterbliebenen klagen die Unternehmen an, doch die schweigen. Auch in Deutschland ist der Tod in der Arbeit ein Tabuthema.

Ihre Stimme versagt, als sie den Speicher neben der Küche betritt, wo sich ihr Lebensgefährte David Criquy in der Nacht zum 3. Februar erhängte. In den Händen hält sie seinen Abschiedsbrief: zwei kaum leserlich beschriebene DIN-A-4-Seiten, voller dahingeworfener Satzfetzen und Beschimpfungen: "Hurensohn", "dreckiger Hurensohn", "Verrecke!!!!!" "Immer mehr Druck auf die Mitarbeiter machen."

David nennt die Namen dreier Vorgesetzter. Einem von ihnen droht er Gewalt an, die er schließlich gegen sich selber richtete.

"Die Arbeit hat ihn umgebracht", flüstert Nathalie Lefebvre mehr, als sie es sagt. Das ist die feste Überzeugung der 29-Jährigen. Die Verzweiflung darüber, dass sich dies wohl nie beweisen lassen wird, ist der Grund, warum sie einen Fremden in ihr großes aufgeräumtes Haus mit Garten in den französischen Ardennen lässt. "Die Kinder dürfen niemals denken, er habe sich meinet- oder ihretwegen das Leben genommen. Es war die Arbeit." Auch ihr Anwalt glaubt dies, sieht aber trotz des Schreibens keine Handhabe, es nachzuweisen.

Da geht es der jungen Mutter aus der Nähe von Sedan nicht besser als den anderen Witwen und Hinterbliebenen jener schrecklichen Serie von Suiziden, die Frankreich erschüttert. Neben dem Elektromechaniker David Criquy töteten sich binnen eines Jahres fünf weitere Mitarbeiter des Autohersteller Peugeot-Citroën, zwei davon am Arbeitsplatz.

Jenseits aller Statistiken

Bei Renault begingen allein drei Beschäftigte des Technikzentrums bei Paris Selbstmord. Ein Designer sprang nach einer Sitzung aus dem fünften Stock. Ein anderer ertränkte sich im Teich auf dem Firmengelände. Die Liste ließe sich fortsetzen. EDF, Areva, Sodhexo, allesamt große Konzerne und Weltmarktführer, sind betroffen.

"Es wäre trotzdem ein Fehler zu glauben, dies sei ein französisches Phänomen", sagt Laurent Vogel, Fachmann für Arbeitsgesundheit beim Europäischen Gewerkschaftsinstitut in Brüssel. "Suizide am Arbeitsplatz gibt es überall in Europa. Nur sind sie erstens ein gesellschaftliches Tabu. Und zweitens werden sie von den Unternehmen verschwiegen, weil sie deren Streben nach immer höherer Produktivität in Frage stellen."

In Deutschland zum Beispiel taucht der Freitod am Arbeitsplatz in keiner Statistik auf. "Theoretisch kann ein Suizid zwar die Folge eines Arbeitsunfalls sein, auch wenn er sich zu Hause ereignet. Das lässt sich aber so gut wie nie 100-prozentig belegen", sagt Sania Zec, Mitarbeiterin bei der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung.

Das heißt gleichwohl nicht, keiner setzte in Deutschland, weil er die Arbeit nicht mehr aushält, seinem Leben ein Ende. "Mir erzählen viele Betriebsräte: Das gibt's bei uns auch", sagt Professor Dieter Sauer von der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität der Bundeswehr München.

In Fachkreisen wie der "Initiative Neue Qualität der Arbeit" oder dem Forschungsprojekt "Partizipatives Gesundheitsmanagement", für das Sauer arbeitet, sind die Selbstmorde in Frankreich ein großes Thema. Sauer leitet mit der Schreckensserie inzwischen seine Vorträge ein.

Sauers Kollege, Professor Michael Schumann vom Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen, der für VW eine Studie über innovative Arbeitsorganisation erstellte, kann das nur bestätigen: "Die neue Arbeitswelt kennzeichnet eine wachsende Grausamkeit gegenüber dem Individuum", sagt er.

Am Wochenende dienstliche E-Mails lesen, zur Sicherheit das Handy abhören und sich nach Feierabend noch mal an den PC setzen, das alles sei längst nicht nur für Führungskräfte selbstverständlich. Die Professoren fragen sich deshalb, ob die Humanisierung der Arbeitswelt in den siebziger Jahren, die Einführung von Gleitzeit und Vertrauensarbeitszeit, inzwischen inhumane Auswüchse zeigt.

Die Statistiken der Krankenkassen sprechen eine deutliche Sprache: Danach sind psychische Erkrankungen infolge von Arbeitsstress exponentiell gestiegen. Nach der jüngsten Erhebung der Techniker Krankenkasse ließen sich 2006 von den 2,5 Millionen versicherten Beschäftigten etwa 33 000 krankschreiben, weil sie sich überfordert, unwohl oder müde fühlten. Auf Deutschland hochgerechnet ergibt sich daraus ein Ausfall von acht Millionen Arbeitstagen - ein Plus von zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Kosten für die Allgemeinheit, Angststörungen, Depressionen, Herzinfarkte oder Hörstürze zu kurieren, verdoppelten sich nahezu binnen eines Jahrzehnts.

Dabei gilt seit zehn Jahren das europäische Arbeitsschutzgesetz, womit auch psychischen Erkrankungen am Arbeitsplatz vorgebeugt werden soll. Es schreibt allen Betrieben vom VW-Konzern bis zum Bäcker vor, Gefahrenherde für die Gesundheit der Mitarbeiter zu eliminieren - und zwar nicht nur physisch messbare Quellen wie Lärm, Staub oder Chemikalien, sondern auch solche, die durch die Arbeitsorganisation entstehen. Allein, es hakt an der Umsetzung.

"Deutschland sitzt da schon auf der Anklagebank", sagt Tamara Hammer von der Bundesarbeitsgemeinschaft für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit in Sankt Augustin. Es gibt zu viele Klein- und Mittelbetriebe, als dass sie sich kontrollieren ließen und zudem keine Sanktionsmaßnahmen. Und selbst Beschäftigte verschweigen, wenn sie psychisch leiden, aus Scham oder Ignoranz. "Es ist auffällig, dass viele krank werden, dies aber nicht in Zusammenhang mit ihrer Arbeit bringen", sagt Elke Ahlers vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf. "Sie sind so mit sich selbst und der Erreichung ihrer Ziele beschäftigt, dass sie nicht wahrnehmen, was mit ihnen passiert."

Ähnlich muss es mit David Criquy gewesen sein. Nathalie Lefebvre berichtet genau wie die anderen Hinterbliebenen über das, was Experten Entgrenzung der Arbeit nennen. Ihre Männer saßen auch nachts noch am Computer, um zu arbeiten, und schliefen kaum mehr als drei Stunden. Auf die Selbstmörder trifft ein weiteres Merkmal zu, das Sauer das Paradoxon der modernen Arbeitswelt nennt.

Psychostress haben nicht die Fließbandarbeiter, sondern meist gut verdienende Führungskräfte, zu denen Betriebsräte keinen Draht haben und die gewerkschaftlich nicht organisiert sein wollen.

In der Tat hatten alle Selbstmörder große Verantwortung, auch Criquy, der für das Instandhalten der Maschinen und damit fürs reibungslose Funktionieren des Werkes in den Ardennen zuständig war. Viele hatten leitende Positionen inne und damit einen Beruf, der als erstrebenswert gilt. In ihren Fällen kehrte sich die begehrte große Verantwortung jedoch in einen unerträglichen Druck um. Ein Phänomen, das in Deutschland, so die Fachleute, im Moment besonders Unternehmensberatern, Bankern, Versicherungskaufleuten zu schaffen macht. In Frankreich ächzt die Autoindustrie unter internationalem Anpassungsdruck.

Peugeot-Citroën-Chef Christian Streiff kündigte diese Woche eine Aufholjagd an, die Verdreifachung der Rentabilität in vier Jahren und 53 neue Modelle.

Trotzdem sank der Aktienkurs. Das spüren irgendwann die Beschäftigten in jedem Werk. "Das kurzfristige Quartalsdenken der Finanzmärkte schlägt auf die Arbeitsorganisation voll durch", sagt Sauer. Mitleid erntet niemand. Das Werk Mülhausen, von dessen Mitarbeitern sich fünf umbrachten, besuchte Streiff bislang nicht. Stattdessen prämiert ein anderes Werk Mitarbeiter, die sich drei Jahre lang nicht krankschreiben ließen.

Um weitere Selbstmorde zu verhindern, richtete Peugeot ein Not-Telefon und einen Krisenstab ein. Das französische Pendant zur Bundesanstalt für Arbeitsschutz, INRS, hält das für völlig unzureichend. Experte Sauer sieht auch in gelobten Anti-Stress-Programmen, wie sie SAP oder IBM praktizieren, keine Lösung.

Ein Anfang sei mit anonymen Fragebögen gemacht, wie sie die IG Metall in manchen Unternehmen verteilt, um den Befindlichkeiten der Mitarbeiter auf die Spur zu kommen. Im Prinzip aber müsste sich der Arbeitsprozess tiefgreifend ändern: "Das ist ein ganz heißes und politisches Thema, weil es auf einen Konflikt zwischen Betriebsrat und Geschäftsführung hinausläuft", sagt Sauer. Im Idealfall müssten die Beschäftigten die Organisation ihrer Arbeit sogar selbst mitbestimmen können.

Dazu wird es bei Peugeot sicher nie kommen, schon weil dort Gewerkschaften keinen hohen Stellenwert haben. In vorauseilendem Gehorsam votierten die Arbeitnehmervertreter in Criquys Werk kurz nach dessen Tod gegen eine interne Untersuchung. Gegenüber der ermittelnden Staatsanwaltschaft verweigerten Criquys Kollegen die Aussage.

Unter Wahrung der Anonymität schimpfen sie jedoch über die Arbeitsbedingungen. Sieben der 20 Kollegen, sagt einer, wollten die Abteilung verlassen. Die von Criquy angegriffenen Vorgesetzten gaben zu Protokoll, keine besonderen Vorkommnisse bemerkt zu haben. Nathalie Lefebvre fragten die Ermittler, ob es denn nicht sexuelle Probleme in ihrer Beziehung gegeben habe und warum sie nicht verheiratet gewesen seien.

Auch die anderen Firmen machen keine Anstalten, intern ernsthaft etwas zu verändern oder nach den Gründen für die Selbstmorde zu forschen. In Tours klagt der Sohn eines Mitarbeiters des Stromkonzerns EDF seit drei Jahren gegen das Unternehmen. Vier Mitarbeiter nahmen sich in dem Werk das Leben, aber der EDF-Anwalt beharrt auf der Feststellung, ein Suizid habe immer mehrere Ursachen. Beim Kantinen-Lieferanten Sodexho verweist man zur Verblüffung der Hinterbliebenen auf die angeblichen Probleme der Selbstmörderin mit ihren Kindern und ihrem Freund.

Den Abschiedsbrief, in dem sie ihre Vorgesetzten anklagt, habe sie womöglich nur geschrieben, damit sich die Familie weniger schuldig fühlt, sagt der Personalchef. Auch Renault stellt sich stur. Dabei hatte der Designer, der das neue Hoffnungsträger-Modell Laguna konzipierte, in seinem Abschiedsbrief namentlich Konzernchef Carlos Ghosn und dessen allzu ehrgeizige Ziele angeprangert. "Die große Mehrheit unserer Mitarbeiter will diese Ziele beibehalten", sagt dazu lapidar Personalchef Gérard Leclerc.

Die Einzige, die bisher einen kleinen Sieg errang, ist die Frau des Renault-Logan-Designers, der sich aus dem fünften Stock stürzte. Den Selbstmord ihres Mannes erkannte die Sozialversicherung als Arbeitsunfall an. Ihn hatten Kollegen als unfähig beschimpft, vergeblich bat er um seine Versetzung. Hinzu kam, so zynisch es klingt, dass er sich während der Arbeitszeit auf dem Firmengelände tötete.

Auch Nathalie Lefebvre hätte diese Anerkennung gern, zumindest für die Kinder. Weil sie nicht verheiratet war, hat sie keinen Anspruch auf Hinterbliebenenrente. So schickt sie klaglos der Versicherung wieder und wieder alle angeforderten Papiere, auch wenn sie sicher ist, sie längst versandt zu haben.

Und wartet auf den Entscheid. "Vor kurzem kannte ich solche Schreckensgeschichten nur aus dem Fernsehen", sagt sie, "jetzt bin ich selber Teil des Films." Ihre Kinder wissen bis heute nicht, dass ihr Papa Selbstmord begangen hat.

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