Tchiboisierung:Kapitalismus und Wahnsinn

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Nackenkissen, Fusselfräsen, Gel-Pantoletten! Was dieser Tage in den Discountern und beim Kaffeeröster ausliegt, lässt sehr tief blicken. Eine Systemanalyse.

Von Sonja Zekri

Das Staunen begann an einem Samstag im Discounter unseres Vertrauens, gegenüber vom Chipsregal. In einem Drahtkäfig lag, etwas lieblos hingeramscht unter der Funktionskleidung, ein Mottenschutz-Zedernholz-Set. 29 Teile. 4,99 Euro. Nichts gegen den Effekt von Zedernholz auf Motten. Aber 29 Teile? Wer hat genug Kleiderschränke für so einen Baukasten? Und warum nicht 30? Oder elf?

Wahrscheinlich liegt in irgendeiner Schublade bei irgendeinem Marktforscher dieser Welt eine Studie, die den Zusammenhang zwischen dem Imagegewinn bei Naturhölzern und ungeraden Zahlen nachweist. Aber was ist mit dem Hairstyling-Set in 33 oder 53 Teilen bei der Konkurrenz? Den Tier- oder Autopflegesets in sieben Teilen? Den fünf Hämmern? Den sechs Salzstreuern? Das sind Fälle für Sammler. Oder für die Aussteuer.

Ein Abgrund hat sich geöffnet zwischen Saftkartons und Gurkengläsern, und er gibt den Blick frei auf ein fantastisch verspieltes, dabei für jedermann erschwingliches Reich der Waren und Wunder.

Anfangs war es nur die gelegentliche Gel-Pantolette. Inzwischen aber wuchern Nackenkissen und Activity-Rucksäcke, Regentonnen und Komfortluftbetten, Türstopper, Ameisenstreumittel und Reise-Zwiebelschneider, Kochlöffelhalter, Snack-Butler, Hundebars, Raumbefeuchter wie auch Raumentfeuchter, Dip-Schälchen und verchromte Eiswürfelbehälter großflächig bis kurz vor die Kühltheke.

Psychedelisches Paradies

Wirtschaftsexperten, die die Hoffnung auf die Rückkehr vergangener Kaufgepflogenheiten noch nicht aufgegeben haben, nennen dieses psychedelische Paradies "Karaoke-Ökonomie". Es ist der reine Neid.

"Eine ebenso rätselhafte wie universale Erscheinung ist die Masse, die plötzlich da ist, wo vorher nichts war", schrieb Elias Canetti mal in Vorpantoletten-Zeiten. Dass in den Gängen heute etwas da ist, wo vorher nichts war, nämlich Balkonhängetischchen, ist nicht rätselhaft.

Daran sind wir selbst schuld. Wir waren es, die für Lebensmittel immer weniger Geld ausgaben, weshalb die Bauern noch schrecklicher wehklagten als sowieso schon und die Lebensmittelhändler vom Lebensmittelverkaufen nicht mehr leben konnten.

Deshalb boten sie Reisen an und Versicherungen, Häuser, Autos, Kunst - und eine wachsende Anzahl von bislang unbekannten Produkten. Während jedoch der Sinn von Versicherungen, Autos oder Kunst jedermann einsichtig ist, wirft die explosionsartige Nachfrage nach, sagen wir, Waagen, die das Körperfett getrennt von der Restkörpermasse wiegen, Fragen auf.

Konsum, so haben wir gelernt, dreht sich nicht um den Verkauf von Waren, um Nutzwert, Praktikabilität oder auch nur Ästhetik. Fendi-Taschen werden nicht gekauft, um darin etwas herumzutragen, Vollpolyester-Hosen von Humana nicht, weil sie bügelfrei sind. Wir kaufen, um dazuzugehören oder auf keinen Fall dazuzugehören, um Einverständnis auszudrücken, Protest oder Indifferenz. Wir kaufen, um uns zu bekennen.

Was also verrät dieses Butterfahrt-Universum über uns? Über den Kapitalismus, also: die Welt?

Zunächst: Dass wir uns vom Individualismus verabschiedet haben. Wir sind Tropfen in einem sich breit dahinwälzenden Käuferstrom, und wir sind es gern. Es stört uns nicht, dass jeder Dritte in der gleichen Jogginghose herumläuft wie wir.

Tchibo verkauft in einer Woche eine Million Skisocken, und dann knallen in Hamburg nicht mal die Sektkorken. Die Auslieferung neuer Computer bei Aldi wird von Nahkampfszenen begleitet, die als Teil des Vergnügens gelten.

Auf dem Monte Prada, am anderen Ende der Konsumskala, mögen ein paar verstockte Marken-Fetischisten die Preisschilder ihrer Socken in Alben einkleben. Aber erstens hat das auch nichts mit Individualismus zu tun, und zweitens gilt längst nicht mehr der Qualitätsstalinist, sondern der Schnäppchenjäger als erfolgreicher Käufer: Lebenstüchtig, clever, genussfreudig - ein Erotiker des Augenblicks.

Denn natürlich geht es im Discount nicht um Geiz, sondern um Begehren, also: um Gier.Wer je an der Kasse in die Augen stolzer Kunden blickte, die angesichts überquellender Einkaufswagen im Kopf überschlagen, welches kümmerliche Häuflein sie für dasselbe Geld in irgendeinem Kaufhaus bekommen hätten, das sie heute nur noch in Ausnahmefällen frequentieren, wer je in diese Augen sah, der erblickte blanken Triumph.

Anderswo noch mehr kaufen

Wir kaufen eine Druckluft-Schlauchtrommel nicht bei Plus, weil wir sie uns im Baumarkt nicht leisten könnten. Wir kaufen sie bei Plus, weil wir mit dem gesparten Geld anderswo noch mehr kaufen wollen.

Andererseits: Man sollte die Macht eines günstigen Angebots nicht überbewerten, und natürlich ist der Preis eines Schnäppchens nicht sein einziger Sinn, wie gelegentlich behauptet wird.

Wer bereit ist, für einen Fleischwolf 12,99 Euro zu bezahlen, obwohl dieser schon beim ersten Gebrauch rostet, wer ein Fahrradschloss kauft, das nach bloßem Augenschein so viel Schutz bietet wie ein Bund Schnittlauch, den treibt nicht Sparsamkeit allein.

Aber wer möchte wirklich noch Produkte, die ein Leben lang halten? Wir haben gelernt, uns Nischen im rasenden Stillstand zu suchen, und lange schon lesen wir die Jahreszeiten an der Dekoration der Schaufenster ab. So folgt das Tempo der Discounter dem Herzschlag eines galoppierenden Marktes: Grillsaison, Skisaison, Gartensaison, Verandasaison, Angelsaison oder EM-Saison lösen einander innerhalb von Stunden ab.

Jahr für Jahr spuckt ein Heer von Trendscouts und Produktmanagern abertausende Produkte aus und schafft es sogar, regionale Besonderheiten zu berücksichtigen: Die Inkontinenzauflage für 5,99 Euro gibt es in München Schwabing West, aber nicht in Lübbecke/Nettelstedt.

Und die größte Sorge besteht darin, dass die Konkurrenz den Markt zur selben Zeit mit Igluzelten überschwemmen könnte und alles durcheinander bringt.

Die offene Zweckfreiheit einer Ware ist dabei kein Argument gegen den Kauf. Manufaktum, wahrlich kein Billigsortimenter, verspricht viel Freude mit einem länglichen Gegenstand, mit dem früher die Sattler das Leder glattstrichen. Sie nennen es "Bananenfalzbein". Im Katalog heißt es, das Bananenfalzbein fühle sich so angenehm an, "dass man es auch ungenutzt nicht gern aus der Hand legt". Aha. Soso.

Wie der "Fadenzähler" eine Katalogseite weiter lockt also auch das Bananenfalzbein eben gerade mit seiner Unverwendbarkeit. Es verspricht eine Marktferne, die den atemlosen Hyper-Konsumenten in eine idyllische Überzeitlichkeit mitnimmt. Unterdessen bietet das Versandhaus Proidee einen sinnfreien Komposter in Form einer großen prallen Erdbeere an, der zwar aktueller wirkt, aber dafür auch etwas albern.

"Je nachdem unterschiedlich"

Versandhäuser überzeugen durch Bequemlichkeit und Muße, ähnlich wie Teleshopping, wo Moderatoren in viereckigen Pfannen Gemüse vorbraten und sich die Viertelprominenz für Edelstein-Bäumchen verbürgt. An den Käfigen der Discounter dagegen gibt es keine Beratung, und der Service ist mit "je nachdem unterschiedlich" vielleicht am besten beschrieben.

Was also lässt uns wie besinnungslos Gartensolarleuchten raffen? Fusselfräsen mit Auffangbehälter? Elektrokühler mit Zigaretten-Anzünder?

Es ist nicht das erste Mal, dass wir uns dem Rausch der Nutzlosigkeit ergeben. Die Zeit der faltbaren Küchenbretter, Chipstüten-Thermoversiegler und elektronischen Apfelschälmaschinen liegt noch nicht so lange zurück. Sanft lag damals der Glanz der Pril-Blume über dem Land, still waren die autofreien Sonntage und bunt die Familie Barbapapa.

Heute, mehr als 30 Jahre später sind die Wundergeräte wieder aufgetaucht: auf Flohmärkten, originalverpackt und nie benutzt. Zu umständlich waren sie, schwer sauberzukriegen, sie funktionierten nur unter infernalischem Getöse oder lohnten angesichts winziger entsafteter Mengen den Aufwand nicht.

Der Haushalt wurde kein schnurrendes Paradies. Und doch haben die Dinge ihren Zweck erfüllt, denn der lag nicht im Entsaften, sondern in der Verheißung von Fortschritt, Freizeit und Komfort. Insofern spielt es gar keine Rolle, ob wir eines Tages die 53-teiligen Bürstensets unter dem Bett hervorkramen. Sie sollten uns nie helfen, den Haushalt zu bewältigen oder die Gartenarbeit - sondern den Kapitalismus.

Denn im Kapitalismus, seien wir ehrlich, fühlen wir uns inzwischen nicht mehr wohl. Der Sieg über den Sozialismus ist ihm nicht bekommen. Freudlos wirkt er, anämisch, verkrampft. Selbst seine Freunde halten ihm inzwischen Marx vor.

Wie sollen wir uns auch zurecht finden in einer voll globalisierten Welt, in der es gegen alle Regeln der Logik immer noch einige nicht-globalisierte Flecken gibt? Marketingtechnische terrae incognitae, zu denen halbe Kontinente gehören? Oder Länder wie Nordkorea, wo das öffentliche Eingeständnis einer Katastrophe bereits als Fortschritt gilt?

Immerhin entwickelt der Kapitalismus gegenüber solchen Atavismen aus der planwirtschaftlichen Jungsteinzeit noch einige Strahlkraft. Aber schon in der arabischen Welt, die man so gerne mit den Segnungen der Warenwelt sedieren würde, ist man sich nicht sicher, ob man gern den Wohlstand und den westlichen Lebensstil übernehmen möchte oder doch lieber nur den Wohlstand allein.

Dabei überzeugte die Kombination von Demokratie und Marktwirtschaft selbst Kritiker von der Lebensberechtigung des Kapitalismus. Als wären die US-gestützten Despotien Lateinamerikas in früheren Tagen, als wären China und Russland heute nicht Beweise genug, dass Demokratie nicht ohne Kapitalismus zu haben ist, kapitalistische Wirtschaftserfolge aber wunderbar ohne Freiheit und Rechtsstaat auskommen.

Laster und Tugenden

"Dem Kapitalismus wohnt ein Laster inne: Die Verteilung der Güter. Dem Sozialismus hingegen wohnt eine Tugend inne: Die gleichmäßige Verteilung des Elends", hatte einst Winston Churchill beschieden. Aber heute kann man nicht mal mehr Altkleider guten Gewissens exportieren, weil sonst irgendwo südlich der Sahara ein Textilmarkt zusammenbricht.

Und das Schlimmste: Unsere Kritik an den Zumutungen des Kapitalismus ist Teil des Systems. Wir können uns über Managerabfindungen in Trillionenhöhe echauffieren, wir können geißeln, dass Konzerne wie Shell in Ländern wie Nigeria die Armen nur ärmer und die Reichen nur reicher machen, aber es ist fast unmöglich, für diese Kritik das kleinste kapitalismusfreie Plätzchen zu finden.

"Entübelung der Subversion", hat Norbert Bolz diese Entwicklung genannt: "Das Protestlied gegen den Weltsound von MTV endet als Nummer eins der Charts." Dass die zotteligen Regenbogen-Krieger und die verkniffenen Attac-Streber so aufregend sind wie Jungpioniere, macht alles nicht besser.

Das alles könnte uns die Laune verderben, hätte nicht - und damit sind wir wieder im Discounter unseres Vertrauens - der Kapitalismus die Instrumente zur Lösung seiner Krise selbst hervorgebracht.

Es sind fantastische Instrumente, in Stückzahlen, die nie zu viel und nie zu wenig versprechen, die für jedes Problem dieser Welt den richtigen Aufsatz haben, die alle Kanten verfugen, jede Verwerfung glatt schleifen, jedem Wetter funktional trotzen, die keinen Regentropfen verschwenden, keinen Eiswürfel schmelzen lassen und jede Diskursdelle gelpolstern. So kaufen wir, um uns darüber hinwegzutrösten, dass uns nichts anderes übrig bleibt, als zu kaufen.

Eine Haltung, die kindisch und zynisch, die lachsrosa und knochenhart ist. Wie Zedernholz.

© SZ vom 19.06.04 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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