SZ-Serie zur Gerechtigkeit, Folge 5:Die ABM-Illusion kostet Milliarden

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Die staatliche Hilfsmaßnahme für Erwerbslose verhindert die Entstehung neuer Jobs.

Von Joachim Käppner

Im Frühjahr 1989 reiste der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker zur Einweihung des restaurierten Doms nach Greifswald, um die Großherzigkeit des Sozialismus gegenüber überholten Traditionen zu demonstrieren. Zuvor ließ die SED-Zentrale der Kreisleitung diskret den genauen Anfahrtsweg des Gewaltigen durch die Stadt zukommen. Die Provinzkader verstanden - und ließen die zahlreichen verfallenen Altbauten entlang der Route anmalen.

Diesem klassischen Potemkinschen Dorf ist nicht unähnlich, was sich heute in Ostdeutschland abspielt, nur unter kapitalistischen Rahmenbedingungen.

Die Altbauten sind zwar längst schön saniert. Der Fassadenschwindel ist heute der Arbeitsmarkt der neuen Länder, und die Zauberformel der bunten Illusion heißt ABM, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Oder auch SAM, Strukturanpassungsmaßnahmen. Auch weil ABM von den Betroffenen selbst sarkastisch als "Arbeit bis Mittag" übersetzt wird, spricht man offiziell lieber vom "zweiten Arbeitsmarkt".

Fern vom real existierenden Arbeitsmarkt

Die Welt der ABM ist dem real existierenden Arbeitsmarkt freilich so fern wie die jetzt fürs Kino neu aufgelegte Schwarz-Weiss-Serie "Raumpatrouille Orion" einem Space-Shuttle-Flug.

Selbst wohlwollendste Berechnungen kommen nur auf ein Fünftel der ABM-Kräfte, die nachher irgendwie den Weg in echte Jobs finden, obwohl dies der Sinn und Zweck des Unternehmens sein sollte. Die ehrlichen Zahlen liegen deutlich darunter.Und was tun all die anderen ABM- Beschäftigten?

Sie leben in einer virtuellen Arbeitswelt. Sie bewachen Krötenwanderungen und die Nester seltener Vögel; sie streichen das Rathaus an und pflanzen Rhododendren im Park. Sie verschönern den Kindergarten und schaufeln verseuchte Erde fort. Sie tun viele Dinge, die wichtig und verdienstvoll sind, aber leider einen entscheidenden Nachteil haben. Kein privater Arbeitgeber hätte sie je dafür bezahlt.

Die ABM-Illusion kostet viel Geld, enorm viel, seit der Wiedervereinigung 138 Milliarden Euro. Das ist mehr als die Hälfte des jährlichen Bundeshaushalts.

Verschwendung von Steuergeldern ist niemals gerecht

Ist es gerecht, eine derartige Summe in ein Projekt öffentlicher Beschäftigungstherapie zu investieren, das etwa so nachhaltig ist wie der Raubbau am Regenwald? Rein ökonomisch lässt sich diese Frage leicht beantworten: Das Geld des Steuer- und Beitragszahlers zu verschwenden, ist niemals gerecht.

Bundes- und Landesregierungen, ob schwarz oder rot, bekamen für diese Ungerechtigkeit einen Gegenwert. Ohne ABM würden sich die Arbeitslosenzahlen deutlich erhöhen, mindestens um die 130.000 Ost-Arbeitnehmer, die derzeit von ABM leben.

Daher ist es kein Wunder, dass sich die Ministerpräsidenten Ost gegen die noch bescheidenen Kürzungen von neuneinhalb auf neun Milliarden Euro jährlich verwahren. Und es ist ebenso kein Wunder, dass Wahlkämpfer ihre sonstigen Einsichten über "Scheinarbeitsmärkte" vergessen und auf den Marktplätzen Halberstadts oder Sommershausens lieber Worte im Munde führen wie "soziale Gerechtigkeit" oder "den Osten nicht alleine lassen".

Das ist nicht ganz falsch. Würde man die Illusion zerstören und den ABM-Markt der neuen Länder schließen, hätte man zumindest jene Menschen allein gelassen, für die ABM ein Rettungsanker in einem Meer der Arbeitslosigkeit ist. Für sie ist der virtuelle Arbeitsmarkt eine Art ausgleichender Gerechtigkeit - für die verschwundenen Kombinate, für die verheißenen Industrielandschaften, die aber niemals erblühten.

Missbrauch

Wer von ABM ein Auskommen hat, verdient keine Kritik und keine Häme. Meist bleibt ihm keine Wahl. Kritik verdient die Methode, die vorgaukelt, diese gigantische Sozialmaßnahme könne eine Brücke in den Arbeitsmarkt sein und ließe sich aus den Versicherungssystemen finanzieren. In Wahrheit ist es ein Missbrauch dieser Systeme.

Dieser Missbrauch macht eine Überlebenshilfe zum ruinösen Dauerzustand. Er verhindert sogar, dass echte Jobs entstehen. Seit 1990 nahmen mehr als sechs Millionen Ostdeutsche kürzer oder länger Platz im "Maßnahmen-Karussell"; sie drehten eine Runde nach der anderen auf Kosten der öffentlichen Hand.

Wo der Staat sie dafür bezahlt, Kirchendächer zu decken, Parks zu pflegen oder Braunkohlebrachen zu sanieren, fasst kein Architektenbüro, kein Landschaftsgärtner und kein Umweltpfleger Fuß. Und ohne solche Firmen entstehen erst recht keine Jobs. So ist der "zweite Arbeitsmarkt" wie eine sich selbst erfüllende Prophezeihung: Weil es ihn gibt, wird der Zustand, den er erreichen helfen sollte, niemals eintreten.

© SZ vom 05.07.03 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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