SZ-Serie zur Gerechtigkeit, Folge 4:Mehr Lasten gegen mehr Einfluss

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Warum das Ende der paritätischen Beitragsteilung auch eine Chance sein kann.

Von Norbert Sturm

Die Strukturreformen in Deutschland betreffen besonders den Sozialbereich. So müssen Pflichtversicherte künftig mehr Geld für ihre Gesundheit ausgeben. Denn die geplanten Milliarden- Einsparungen im Sozialbereich entlasten Arbeitgeber auf Kosten der Arbeitnehmer. Ist das gerecht?

Bisher teilten sich - grob gerechnet - Arbeitgeber und -nehmer die Beitragslast. Das ändert sich nun mehr und mehr. Bestimmte medizinische Maßnahmen werden ganz aus der solidarischen Finanzierung herausgenommen, sie werden also privatisiert.

Bei anderen Kassenleistungen, wie etwa dem Krankengeld, sollen Arbeitnehmer mehr als die bisher ihnen abverlangten 50 Prozent tragen. Kritiker sehen darin einen Systembruch. Die paritätische Teilung der Beitragslast gilt seit den von Reichsgründer Otto von Bismarck im Jahr 1885 angestoßenen Sozialgesetzen als Mittel zur Befriedung der Gesellschaft.

Schon lange keine Parität mehr

Dennoch ist kaum anzunehmen, dass mit der Lastenverschiebung durch die neue Gesundheitsreform der Klassenkampf ausbricht. Von Parität kann nämlich schon lange keine Rede mehr sein.

Die Grenzen haben sich seit den sechziger Jahren verschoben. Damals führten die Arbeitgeber die Lohnfortzahlung für kranke Mitarbeiter ein. Die Krankenversicherungen, die von Bismarck ursprünglich ins Leben gerufen wurden, um arbeitsunfähige Mitarbeiter nicht in Armut zu stürzen, profitierten von dieser Sozialtat. Sie müssen für krank gewordene Pflichtversicherte heute erst nach sechs Wochen Ausfall Lohnersatz zahlen. Für die Zeit davor stehen die Arbeitgeber finanziell gerade. Deren Verpflichtung wiegt vier- bis fünfmal schwerer als das Obligo der Kassen.

Die Wirtschaft wendet für die Lohnfortzahlung - je nach Rechnung - jährlich zwischen 28und 35 Milliarden Euro auf. Die Krankenversicherungen werden dafür aber nur mit rund 7,1 Milliarden Euro pro Jahr belastet.

Trotzdem sind die Arbeitgeber nicht die einzigen Leidtragenden der Entwicklung. Auch die Arbeitnehmer haben sich in den vergangenen drei Jahrzehnten viele Leistungen einseitig aufbürden lassen.

Ein Drittel wird privat finanziert

Von den 140 Milliarden Euro, die das deutsche Gesundheitswesen im Jahr verschlingt, wird fast ein Drittel von Arbeitnehmern privat, also ganz ohne Arbeitgeberbeitrag, finanziert. Das fängt bei Rezeptgebühren an und hört bei dem Tagegeld für Krankenhausaufenthalte noch lange nicht auf.

Viele Medikamente - Pillen gegen Unpässlichkeiten oder Mittel gegen leichte Erkältungen - stehen bereits nicht mehr im Leistungskatalog der Kassen.

Das System der paritätischen Lastenverteilungen wird von der Praxis also längst unterlaufen. Die Regierung will dennoch am Prinzip einer für Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu gleichen Teilen geltenden Abgabenpflicht festhalten. Das erstaunt. Denn alle Reformbemühungen laufen auf eine weitere Durchlöcherung der alten Maxime hinaus.

Gesundheitsministerin Ursula Schmidt (SPD) muss ja schließlich die Lohnnebenkosten senken, weil andernfalls die Firmen keine Chancen auf Schaffung neuer Arbeitsplätze sehen. Da aber gleichzeitig die Gesundheitsausgaben nicht zuletzt auch wegen der zunehmenden Überalterung der Gesellschaft tendenziell steigen, verbleibt eine immer größer werdende Deckungslücke. Diese kann wegen der Gefahr einer wachsenden Massenarbeitslosigkeit nicht über das Konto der Lohnnebenkosten geschlossen werden. Deshalb bleibt nichts anderes übrig, als die Bürger zur Kasse zu bitten.

Fehlende Möglichkeiten der Beeinflussung

Ob das ungerecht ist, bleibt abzuwarten. Die Antwort auf diese Frage hängt auch von den Möglichkeiten der Beeinflussung ab. Pflichtversicherte würden ohne Murren einen größeren Finanzierungsbeitrag leisten, wenn sie sicher wären, auch die Kostenentwicklung kontrollieren zu können.

Privat nachgefragte Gesundheitsleistungen, wie etwa medizinische Wellness-Dienste, gehören ohne Zweifel in die persönliche Verantwortung. Aber wie steht es mit Arztkosten, die bei der Heilung berufsbedingter Krankheiten anfallen? Oder Krankenhausaufenthalte?

Kommunen sind für überdimensionierte Bettenkapazitäten verantwortlich, bezahlen aber muss das alles der Krankenversicherte mit seinem Kassenbeitrag. Der will zwar Sparsamkeit, kann dies aber nicht durchsetzen, weil er keinen Einfluss auf die Kosten nehmen kann. Die Versicherungen teilen ihm ja noch nicht einmal die Aufwendungen für seine eigene Genesung mit. Dies über mehr Transparenz zu korrigieren, diente den Interessen der Versicherten mehr als das Festhalten am Phantom der paritätischen Lastenteilung.

© SZ vom 28.06.03 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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