SZ-Serie zur Gerechtigkeit, Folge 16:Gleiche Chancen und Leistungsanreize

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Die Deutschen zeigen in ihren Einstellungen zur Gesellschaft erstaunlich wenig Unterschiede. Die Reform des Sozialstaats macht vielen Deutschen Angst. Sie sorgen sich, dass die soziale Gerechtigkeit unter die Räder kommen könnte. Aber was verstehen sie eigentlich unter diesem Begriff?

Von Nikolaus Piper

(16.10.03) — Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat für die SZ in einer Umfrage versucht, diese Frage zu klären. Grundlage der DIW-Untersuchung über die Vorstellung der Deutschen von sozialer Gerechtigkeit ist eine Umfrage aus dem vergangenen Sommer unter 846 zufällig ausgewählten Bürgern, die mindestens 16 Jahre alt sind.

Die Befragung durch Infratest Sozialforschung (München) fand statt im Rahmen einer Sonderstudie des am DIW Berlin geführten Sozio-ökonomischen Panels (SOEP).

Auffallend ist dabei, dass die Befragten sehr klare, aber auch auf den ersten Blick widersprüchliche Vorstellungen haben: Der Vorgabe "Soziale Gerechtigkeit bedeutet, dass alle Bürger die gleichen Lebensbedingungen haben" stimmten 67 Prozent ganz oder teilweise zu.

Leistungsanreiz Geld

Praktisch genau so große Zustimmung (69 Prozent) fand der Satz: "Ein Anreiz für Leistung besteht nur, wenn die Unterschiede im Einkommen groß genug sind".

Dabei sind die Unterschiede in der Beurteilung der sozialen Gerechtigkeit kleiner als man vermuten könnte. 71 Prozent der Ostdeutschen stimmten dem eher egalitären Leitbild ("gleiche Lebensbedingungen für alle") zu, aber immerhin auch 66 Prozent der Westdeutschen.

Ein Indiz für Stimmungen mag die Tatsache sein, dass 14 Prozent das Bekenntnis zu Einkommensunterschieden vollkommen ablehnten, aber nur 4 Prozent der Ostdeutschen. Der Satz wurde im übrigen von jungen Menschen (bis 35) stärker in Frage gestellt als im Durchschnitt (29 Prozent lehnten den Satz eher ab, 9 Prozent vollkommen, gegenüber 25 und 6 Prozent im Durchschnitt).

Resignation im Alter

Darüber hinaus gibt es aber für alle Aspekte des Gerechtigkeits-Themas vergleichsweise nur geringe Unterschiede je nach Alter. Am Deutlichsten ist der Alterseffekt bei der Einschätzung "Es ist zwecklos, sich über soziale Gerechtigkeit zu streiten, weil sich die Verhältnisse doch nicht ändern lassen."

49 Prozent der Jungen stimmten diesem Satz ganz oder teilweise zu, aber 65 Prozent der 46- bis 55-Jährigen. Deutlicher waren die Unterschiede nach dem Geschlecht: Frauen sind deutlich "sozialer" eingestellt als Männer. 61 Prozent der männlichen Befragten stimmten der Forderung nach gleichen Lebensbedingungen ganz oder teilweise zu, aber 73 Prozent der Frauen.

Praktisch ohne Gegenstimmen wird die Aussage abgelehnt, dass die Kinder Wohlhabender bessere Chancen haben sollten. Soziale Politik muss also nach den Vorstellungen der Deutschen Chancengleichheit über ein ausreichendes und angemessenes Bildungsangebot herstellen.

Ostdeutsche sozialer eingestellt

Zu ihren Ergebnissen schreiben die DIW-Forscher Jürgen Schupp und Gert G. Wagner: "Erwartungsgemäß sind in Ostdeutschland die Befragten sozialer eingestellt - wir halten die Differenzen aber für überraschend gering." Bei der Unterscheidung nach dem Erwerbsstatus sei nicht überraschend, dass Selbstständige weniger "sozial" eingestellt seien als andere Gruppen.

Aber auch in der Gruppe der Selbstständigen überwiege eine soziale Einstellung ganz deutlich. Auch Selbstständige lehnten überwiegend bessere Chancen für die Kinder Wohlhabender ab - wenn auch weniger deutlich als abhängig Beschäftigte.

Insgesamt scheinen die Deutschen nach diesem Meinungsbild in ihren Vorstellungen von der Gesellschaft erstaunlich homogen zu sein.

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