SZ-Serie zur Gerechtigkeit, Folge 12:Mehr Freiheit beim Gang in die Rente

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Die Logik des Äquivalenzprinzips: Länger arbeiten oder weniger Geld bekommen.

Von Norbert Berthold

(SZ vom 30.08.03) — Wie sich die Zeiten ändern. In den ersten 50 Jahren dieser Republik wurde immer nur über kürzere Arbeitszeiten diskutiert. Die Jahre des Wirtschaftswunders bescherten eine Traumkonstellation: steigende Einkommen bei kürzeren Arbeitszeiten.

Das änderte sich nach den Ölpreisschocks, der Kuchen wuchs langsamer. Die Strategie der Gewerkschaften blieb allerdings dieselbe. Höhere Löhne plus kollektiv kürzere Arbeitszeiten sollten nun die Arbeitslosigkeit in Schach halten, was erfolglos war. Der Produktivitäts-Fortschritt lässt sich nicht zweimal verteilen.

Weniger Kinder

In den nächsten 50 Jahren wird die Diskussion wohl anders laufen. Die Gewerkschaften werden eher darum kämpfen, den Anstieg der Lebensarbeitszeit in Grenzen zu halten. Viel weniger Kinder und merklich ältere Menschen machen allen umlage-finanzierten Systemen der sozialen Sicherung zu schaffen, allen voran denen der Alterssicherung.

Eine längere Lebensarbeitszeit scheint unvermeidlich: Wer länger lebt, muss auch länger arbeiten. Es wird gefordert, die gesetzliche Altersgrenze, die heute bei 65 Jahren liegt, auf 67 oder vielleicht sogar auf 70 Jahre zu erhöhen. Das ist eine Möglichkeit - eine andere wäre, sich mit weniger Rente zufrieden zu geben.

Demographische Last

Bei einer freiheitlichen, kapital-fundierten Lösung der Alterssicherung sind es die Individuen, die zwischen diesen Alternativen entscheiden. Eine gesetzliche, kollektiv festgelegte Altersgrenze ist nicht notwendig.

Das ist bei einer zwangsweisen, umlage-finanzierten Alterssicherung anders. Werden die Menschen älter, muss der Staat entscheiden, wie diese zusätzliche demographische Last auf Erwerbstätige und Rentner aufgeteilt wird. Mit der gesetzlichen Altersgrenze trifft er eine Vorentscheidung.

Diese Entscheidung ist werturteils-beladen. Sie wird als gerecht angesehen, wenn das Werturteil allgemein akzeptiert ist. Die Vorstellung ist weit verbreitet, dass der Preis einer höheren Lebenserwartung entweder niedrigere Renten oder eine längere Lebensarbeitszeit sind.

Abschläge werden akzeptiert

Das Prinzip der Äquivalenz wird also auch in einer umlagefinanzierten Alterssicherung als Gerechtigkeitsnorm allgemein akzeptiert. Untersuchungen zeigen allerdings, dass die Deutschen niedrigere Renten längeren Lebensarbeitszeiten vorziehen.

Das wirkt sich auch auf die individuelle Entscheidung aus, vor Ablauf der gesetzlichen Altersgrenze in den Ruhestand zu gehen. Wer sich aus freien Stücken dafür entscheidet, muss Abschläge bei der Rente in Kauf nehmen. Die müssen so bemessen sein, dass der vorzeitige Ruhestand für das System der Alterssicherung finanzneutral ist.

Mit den 3,6 Prozent, die gegenwärtig pro Jahr des vorgezogenen Rentenbeginns in Rechnung gestellt werden, ist es allerdings nicht getan. Versicherungsäquivalente Abschläge bewegen sich schon heute zwischen sechs und sieben Prozent pro Jahr vorzeitiger Rente.

Rentenalter sechzig

Mit solchen Abschlägen würde auch die gegenwärtige Diskussion vom Kopf auf die Füße gestellt. Tatsächlich liegt das durchschnittliche Alter, in dem die Erwerbstätigen in Rente gehen, mit knapp über 60 Jahren weit unter der gesetzlichen Altersgrenze.

Die künftigen Finanzprobleme der Alterssicherung ließen sich erheblich entschärfen, würde die faktische Altersgrenze der gesetzlichen genähert. Das erfordert allerdings einen flexiblen Arbeitsmarkt, der ältere Arbeitnehmer auch in Arbeit bringt.

Damit ist es aber nicht getan; die völlig andere Altersstruktur erfordert eindeutig mehr. Eine faktisch höhere als die gegenwärtig gesetzliche Altersgrenze ist unvermeidlich. Sie wird von der Bevölkerung um so eher akzeptiert, je weniger ihr der Ruch politischer Willkür anhaftet.

Steigende Lebenserwartung

Die Entscheidung über die gesetzliche Altersgrenze sollte deshalb entpolitisiert, die Altersgrenze automatisch an die veränderte demographische Entwicklung gekoppelt werden. Willkürliche politische Entscheidungen wären nicht mehr notwendig, wenn die steigende Lebenserwartung zu Buche schlägt.

Wer eine längere Lebensarbeitszeit will, darf nicht nur auf die gesetzliche Altersgrenze schielen. Länger arbeiten, über ein ganzes Leben betrachtet, kann auch der, der früher berufstätig wird. Das ist nur möglich, wenn Kinder früher eingeschult werden und die Ausbildung kürzer und effizienter wird. Länger arbeiten können die Menschen aber nur, wenn genügend Arbeitsplätze vorhanden sind.

Mehr Wettbewerb auf den Arbeitsmärkten ist unabdingbar. Tarifpartner und Staat sind gefordert, bisher aber leider total überfordert. Die demographische Zeitbombe lässt sich nur entschärfen, wenn es gelingt, den arbeitsmarktpolitischen Zünder zu entfernen.

Prof. Dr. Norbert Berthold lehrt Volkswirtschaft an der Universität Würzburg.

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