Studie:Kommunen betrügen Obdachlose

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Zahlreiche deutsche Kommunen verweigern Obdachlosen die ihnen zustehende Hilfe. Dies hat eine Studie der Evangelischen Obdachlosenhilfe (EOH) ergeben, die von "systematischen Rechtsverletzungen" spricht.

Von Kassian Stroh

München - Das Problem verschärfe sich angesichts der Finanznot vieler Kommunen.

Am bedenklichsten sei die in vielen Kommunen praktizierte "Drei-Tage-Regelung", sagte der EOH-Vorsitzende Wolfgang Gern der Süddeutschen Zeitung.

Dabei würde Obdachlosen gesetzwidrig nach drei Tagen keine Unterkunft mehr bereitgestellt oder keine Leistungen mehr gezahlt; diese seien deshalb gezwungen weiterzuziehen.

So versuchten die Sozialämter, Hilfsbedürftige aus ihrem Zuständigkeitsbereich zu vertreiben, beklagte Gern. "Solche Strategien nehmen zu."

Ein weiteres Beispiel sei die rechtswidrige Praxis, Mietkautionen, die das Sozialamt zu tragen habe, von der Sozialhilfe wieder abzuziehen. Dadurch würden mittellose Menschen unter das Existenzminimum gedrückt.

Für ihre Studie hat die EOH, ein Fachverband des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche, die gut 350 evangelischen Obdachloseneinrichtungen in Deutschland befragt.

Spitze des Eisbergs

Dabei seien mehr als 100 Fälle zu Tage getreten, die auf eine "systematische Rechtsverweigerung" hindeuteten, heißt es in der Studie.

Das aber sei nur "die Spitze des Eisbergs", sagte Gern. Viele Einrichtungen hätten die Verstöße als "typisch" und "weit verbreitet" bezeichnet. "Rechtsverstöße sind fast schon salonfähig geworden", bilanzierte Gern.

Als problematisch erweise sich die Lage im Allgäu, der Pfalz oder in manchen ländlichen Gegenden in Ostdeutschland. Vorbildlich seien dagegen Großstädte wie München, Stuttgart, Hamburg oder Frankfurt.

Aber auch dort gebe es bedenkliche Sparpläne, kritisierte Gern. "Es darf nicht sein, dass in finanziell schwierigen Zeiten diese Fürsorge an die Wand gefahren wird", forderte der EOH-Vorsitzende. "Das wird volkswirtschaftlich zur Verlustrechnung."

Mit dem "Gebeugten Paragrafen" hat die EOH nun einen symbolischen Preis gestiftet, der ein Zeichen gegen die "um sich greifende Hilfeverweigerung" setzen soll. Er wird am Dienstag anlässlich des Bundeskongresses des Verbands, der bis Mittwoch in Freiburg stattfindet, verliehen: an die Stadt Frankenthal in der Pfalz, die stellvertretend für das schlechte Hilfssystem der Region stehe, so Gern.

Als Konsequenz fordert die EOH ein Verbandsklagerecht. "Obdachlose kämpfen nicht um ihre Rechte", konstatierte Gern; auch seien sie oft nicht in der Lage, mehrjährige Rechtsverfahren durchzustehen. Hier müssten die Sozialverbände eine Ombudsfunktion wahrnehmen.

In Deutschland waren im vergangenen Jahr nach Schätzungen der EOH 400000 Menschen wohnungslos; 20000 von ihnen lebten auf der Straße. Erschreckend sei das sinkende Durchschnittsalter der Betroffenen, klagte Gern.

Es liege inzwischen bei 38 Jahren, ein Viertel der Wohnungslosen sei jünger als 25 Jahre. Auch steige der Anteil der Frauen, die fast ein Viertel der Wohnungslosen ausmachten.

© SZ vom 8.11.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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