Stilles Glück:Das Wunder von London

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Seit elf Jahren wächst bei den Briten die Wirtschaft, weil die Konsumenten der Zukunft vertrauen.

Von Gerd Zitzelsberger

Es ist eine Erfolgsgeschichte, wie sie vor einem Jahrzehnt keiner für möglich gehalten hatte: Seit 44 Quartalen, also seit elf Jahren, wächst die britische Volkswirtschaft ohne Pause.

Sicher, in den USA fällt das Wachstum manchmal spektakulärer aus; dafür gab es bei den Briten in all diesen Jahren kein einziges Quartal, in dem die Wirtschaft geschrumpft wäre.

Kein raues Erwachen

Zugleich konnten die Briten eine Wachstumsschwäche vermeiden, wie sie in Kontinental-Europa herrscht: Das deutsche Sozialprodukt hat sich seit 1992 um real 14 Prozent erhöht, das britische dagegen um mehr als das Doppelte — um 37 Prozent.

In Deutschland stagniert die Zahl der Arbeitsplätze seit 1992, bei den Briten sind mehr als zwei Millionen hinzugekommen. Und wenn man der Statistik mehr traut als dem Augenschein, dann hat der britische Lebensstandard den deutschen inzwischen schon beinahe erreicht.

Das britische Wunder hat die Phase eines absurd hohen Pfund-Kurses überdauert. Und selbst das Platzen der Börsenblase vom Frühsommer 2000 an haben die Briten vergleichsweise schmerzlos verkraftet - obwohl Aktien dort eine größere Rolle bei der Altersvorsorge spielen als auf dem Kontinent, obwohl das plötzliche Ende der Übernahme-Welle das Finanzzentrum London hart traf und obwohl die Telekom- und Computer-Branche wichtige Säulen der dortigen Wirtschaft bilden.

Immer wieder war die Rede von der bevorstehenden Trendwende und der Reinigungskrise: "Die goldenen Zeiten sind zu Ende, in Großbritannien wird es im kommenden Jahr ein raues Erwachen geben", hatte etwa der Chefvolkswirt der Deutschen Bank Norbert Walter im Herbst 2002 prognostiziert. Tatsächlich aber hat der Staat im abgelaufenen Jahr viele neue Stellen geschaffen, die Bevölkerung hat einfach weiterhin konsumiert.

Feel good

Beim Auto-Absatz kam es - auch zur Freude von BMW, Daimler-Chrysler und VW - zum dritten Jahresrekord in Folge, und das Sozialprodukt insgesamt ist immerhin um zwei Prozent gestiegen. Das ist viermal so viel wie im Euro-Raum. Heute spricht kaum einer mehr von einem drohenden Konjunktur-Abschwung auf der Insel.

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat jetzt sogar eine Art Traumkonstellation für das laufende Jahr und für 2005 prognostiziert: Bei anhaltend niedriger Teuerung ein Wachstum von 2,7 bis 2,9 Prozent.

Dennoch verdecken all die Zahlen, dass das Wunder fragil ist: Getragen wird die gute Konjunktur bislang in erster Linie vom privaten Verbrauch. Gute Beschäftigungschancen und hochgeschnellte Immobilien-Preise haben das Konsumklima angeheizt.

Auch die Politik hat einen Beitrag geleistet: Premierminister Tony Blair mag es vielleicht mit der Wahrheit nicht immer so genau nehmen, aber er gibt dem Land noch immer weit mehr als Schröder und Kohl zusammen eine "feel good"-Stimmung. Die Bevölkerung blickt mit Vertrauen in die Zukunft - und kauft entsprechend.

Die Kehrseite der Konsumfreude freilich sind wachsende private Schulden. Etwa zehn Prozent der Briten dürften bereits hoch verschuldet sein. Die Londoner Zentralbank, die in den vergangenen Jahren eine sehr erfolgreiche Geldpolitik gemacht hat, versucht jetzt, diesem Trend entgegenzusteuern.

Höhere Zinsen sollen vor der Verschuldung abschrecken und auch die Preissteigerungen bei Häusern bremsen. Doch sollte es dadurch zu einer erheblichen Zahl von Notverkäufen kommen, wäre das Preisniveau dort und bald darauf das allgemeine Konsum-Klima in Gefahr.

Fragil ist das Wunder noch aus einem zweiten Grund: Sowohl die öffentliche Hand als auch die private Wirtschaft haben in den vergangenen Jahren von der Substanz gelebt und zu wenig investiert. Speziell der Staat muss deshalb in den nächsten Jahren die Bürger stärker zur Kasse bitten. Verteilungskonflikte können die Folge sein. Manchmal gilt für die Konjunktur eine alte Börsenregel: Der Trend dreht, wenn keiner damit rechnet.

© SZ vom 22.01.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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