Steuerreform:Seiltanz mit der ganz großen Nummer

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Schon seit Jahren kämpft der Ex-Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof für die Vereinfachung des Steuerrechts - jetzt hat er beste Chancen.

Von Marc Beise

(SZ vom 11.11.2003) — Die Drucker, neulich in Frankfurt, waren seine bisher härteste Herausforderung. Da war er nicht überzeugt, formuliert er drastisch, ob er "lebend aus der Versammlung kommen" würde.

Der Steuerreformer Paul Kirchhof will die Steuerfreiheit für Sonn-, Feiertags- und Nachtzuschläge abschaffen - ein Zusatzbrot, das manche Reihenhaus-Finanzierung nährt.

Bessere Welt auf Umwegen

Anderswo sind die Zuhörer vornehmer, vergangenen Freitag zum Beispiel in der mit Steuerberatern und Finanzbeamten gut gefüllten Straubinger Stadthalle, aber die Dramaturgie ist ähnlich: Es herrscht eine gespannte bis angespannte Atmosphäre.

Neugier auf einen, der das System ändern will. Sorge, es könne dabei an die eigene Geldbörse gehen. Und dann der Auftritt eines deutschen Staatsrechtslehrers, der mit rhetorischer Eleganz und großer Eindringlichkeit den Egoismus bekämpfen will, indem er jedem Egoisten eine bessere Welt auf Umwegen verspricht: Abgeben, um mehr zu haben, lautet die Losung im Herbst 2003. Deutschland vor der Steuerrevolution.

Mindestens 150 Auftritte hat Kirchhof in diesem Jahr bereits absolviert, vor großem und kleinem Publikum, wahlweise besetzt mit Steuerprofis, Wissenschaftskollegen und mittelständischen Unternehmern.

Der Hochschullehrer aus Heidelberg hat es für einen auch unter Kollegen hoch angesehenen Professor weit gebracht, nämlich zu allgemeiner Bekanntheit. Und das vor allem damit, dass er das deutsche Steuerrecht vom Kopf auf die Füße stellen will. Die Chancen dafür stehen gut. An diesem Donnerstag wird er sein Modell in Berlin vor der Bundespressekonferenz präsentieren.

Während das Land unter der Massenarbeitslosigkeit ächzt, das Sozialsystem aus den finanziellen Angeln fliegt und die Konjunktur daniederliegt, öffnet sich bei den Steuern unversehens ein Reformfenster: Der Paragraphendschungel soll gelichtet werden, in dem sich niemand mehr zurecht findet, auch kein Finanzbeamter, und in dem nur noch die Ehrlichen und die Dummen Steuern zahlen. Es wäre die größte Steuerreform seit Jahrzehnten, ein Riesenwurf.

Die ganz große Nummer

Das Thema beginnt, eine Eigendynamik zu entwickeln, der sich - jedenfalls verbal - kein Politiker mehr zu entziehen wagt. Für die CDU hat ihr Fraktionsvize Friedrich Merz das erste Konzept auf Kirchhof-Basis vorgelegt, über das nun sogar Bundesfinanzminister Eichel reden will, der kürzlich noch gesagt hat: "Eine komplexe Gesellschaft braucht ein komplexes Steuerrecht."

Die FDP ist eh dafür und die Grünen sind es wohl auch, nur der bemüht volksnahen CSU des Edmund Stoiber gehen die Vorschläge zu weit, weshalb sie sich, natürlich, eigene Gedanken macht.

Nicht um die endlose Debatte um ein Vorziehen des Eichel'schen Einkommensteuer-Reförmchens geht es hier, sondern um die ganz große Nummer: um eine radikale Vereinfachung des Steuerrechts, Ende der Schonzeit für die großen und kleinen Steuerbetrüger im Land. Alle Ausnahmen sollen weg, bis auf die Abzugsfähigkeit bestimmter Spenden.

Ausnahmen weg - das heißt auch: keine Entfernungspauschale und keine steuerfreien Zuschläge mehr. Jede Ausnahme hat ihre Anhänger. Bei den Zuschlägen zum Beispiel sind es nicht nur die streitbaren Drucker, sondern Kirchhof wird in Versammlungen gerne die schwer arbeitende und schlecht bezahlte Krankenschwester entgegen gehalten mit der Frage: "Herr Professor, haben Sie denn gar kein Herz mehr?"

25 Prozent — höchstens

Hat er doch, sagt Kirchhof, eben gerade. Und dann beschwört er die sensationell niedrigen Steuersätze seines Systems von null bis höchstens 25 Prozent (zum Vergleich: heute liegt der Spitzensteuersatz bei 48,5 Prozent, und nach Abschluss der Eichel-Reform werden es immer noch 42 Prozent sein).

25 Prozent, das heißt: Niemand mehr in Deutschland soll mehr als ein Viertel Steuern zahlen, die meisten deutlich weniger. "Wenn ich den Leute das erkläre", sagt Kirchhof, "erkennen sie den Vorteil meines Systems und werden zugänglich." Sogar die Drucker.

Wahrscheinlich redet sich Kirchhof die Welt ein bisschen schön, wenn er eine Grundstimmung durchs Land gehen fühlt, die auf Veränderung aus sei.

Oder wenn er sich der Zustimmung der Politik sicher ist, nur weil fünf Bundesländer seine Forschungen finanzieren und die Minister Solidaritätsbekundungen abgeben.

"Sie zerstören mein Lebenswerk"

Hinter vorgehaltener Hand ist selbst bei den Geldgebern die Reserviertheit deutlich zu spüren, ob ein Systemwechsel wirklich realistisch ist. "Schon toll, was der Kirchhof auf die Beine stellt", heißt es dann, "aber ziemlich akademisch."

Andere werden persönlich. "Sie zerstören mein Lebenswerk", hat ihm ein langjähriger Ministerialer gesagt, dessen Ausnahmeparagraph zur Disposition steht. Und ein Lehrbuchautor fragte ungläubig: "Braucht man dann meine ganze Kommentierung nicht mehr?" Da hat Kirchhof, der selbst Herausgeber eines respektablen Werks ist, einfach nur genickt.

Und was die Steuerzahler selbst angeht: Die Steuererklärung per Chipkarte und in zehn Minuten, die Kirchhof verspricht, gibt einerseits wieder viele Sonntage frei, die bisher der Suche von Belegen und dem Stöbern in Steuerratgebern dienten, aber sie zerstört auch einen Volkssport: das Herumtüfteln des vielfach gepiesackten Staatsbürgers, ob man den Fiskus nicht zum Ausgleich ordentlich melken kann.

Kann man eben nicht, sagt Kirchhof, nicht mit den kleinen Schummeleien bei den Kilometern zur Arbeit und nicht mit der einen oder anderen Krimi-Rechnung, die als Bürobedarf getarnt wird. Wovon überwiegend der Vielverdiener mit den cleveren Steuertricks profitiert.

Dies zu begreifen ist wichtig. Denn Kirchhof braucht für seine Fundamentalreform die Unterstützung von unten: den Steuer-Ruck im Volk, der die Politiker treibt. Der Widerstand von oben ist ohnehin groß genug, er kommt von denen, denen Kirchhof ans Portemonnaie will.

Ein echtes Viertel

Weshalb er sich heftig dagegen wehrt, dass sein Modell nicht sozial sei, obwohl doch auch die Reichen nur noch 25 Prozent zahlen müssen. Dieses Viertel, sagt er, werde dann aber wirklich fällig; während heute der Steuersatz doch nur auf dem Papier stehe. Unerträglich findet er, dass Konzerne, die Dividende ausschütten können, sich gleichzeitig brüsten, keine Steuern zu zahlen. Ihnen will er ans Leder, und aus dieser Richtung kommt auch der härteste Widerstand.

Wer Kirchhof in der Rolle des naiven Professors sieht, irrt. In Wirklichkeit ist der Mann sehr machtbewusst. 60 Jahre ist er alt, und er war stets von großer Zielstrebigkeit. Der Elite-Jurist aus einer Juristen-Dynastie, einer der jüngsten Professoren der Republik, war erst 44 Jahre alt, als er 1987 Bundesverfassungsrichter wurde.

Die zwölfjährige Amtszeit nutzte er wie kaum ein Richter vor und nach ihm. Den Gesetzgeber trieb er vor sich her, indem er aus der Fülle der zufällig beim höchsten deutschen Gericht eingehenden Fälle geschickt jene heraussuchte, die sich zu Grundsatzentscheidungen eigneten.

Seine Kritiker sehnten damals das Ende seiner Amtszeit herbei, zu dem er wieder auf die ehrenhafte, aber unverbindliche Position des deutschen Hochschullehrers zurückkehren würde.

Angst vor der Vereinnahmung

In der Tat: Der Professor lehrt ordentlich in Heidelberg, ist aber ansonsten unermüdlich unterwegs in Sachen Steuerreform. Denn in Karlsruhe hat der große Gestalter Kirchhof in Wirklichkeit hart gelitten: "Immer nur das Auto reparieren zu können, statt ein neues zu bauen", das war ihm zu wenig.

Die neue Karosse - ein einheitliches Recht für Bürger und Unternehmen, kurz und gerecht - entstand über drei Jahre in enger Zusammenarbeit mit etwa 30 Experten aus Theorie und Praxis. "Wir kommen damit durch. Nicht in Jahren, sondern bis zum nächsten Sommer", sagt Kirchhof, weiß aber auch um eine Gefahr: "Wenn mein Konzept von einer Partei vereinnahmt wird, ist es tot."

Deshalb setzt der parteilose Experte, der der Union nahe steht, auf die Bundesländer und dort vor allem auf den nordrhein-westfälischen SPD-Ministerpräsidenten Peer Steinbrück, den er in langen Gesprächen überzeugt hat.

Mit Steinbrück hat er nun auch Zugang nach Berlin. Bald wird Eichel ihn empfangen, dann womöglich Schröder - dem er mit der großen Steuerreform das rettende Thema für den nächsten Bundestagswahlkampf liefern könnte.

Kirchhofs Weg muss damit noch nicht zu Ende sein. Die Union hat angefragt, ob er im Frühjahr als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten zur Verfügung stünde, wenn das Parteiengekungel das zulässt. Das wäre dann schon ein besonders feine Fußnote der Geschichte, wenn ein neuer Bundespräsident Paul Kirchhof als erste Amtshandlung das neue Steuerrecht gegenzeichnen könnte.

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