Spaniens Jugend:Generation im Nirgendwo

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Junge Spanier halten sich oft nur mit Gelegenheitsjobs, etwa als Kellner über Wasser. Im Bild eine Bar in Madrid. (Foto: Francisco Seco/AP)

Obwohl sie bestens ausgebildet sind, finden viele junge Spanier keinen richtigen Arbeitsplatz. Sie jobben als Kellner oder Pizzaboten. Die Geschichte von Mónica und Emilio zeigt, warum das so ist.

Von Thomas Urban, Madrid

Die Plaza Mayor, der zentrale Platz in Madrids Touristenviertel, ist Emilios Arbeitsplatz. Zumindest bis Ende August. Er liebt diese Arbeit nicht, er ist Aushilfskellner während der großen Ferien. Immer wieder muss er vom heruntergekühlten Restaurant mit Tabletts voller Speisen und Getränke über Pflastersteine zur Terrasse zu laufen, wo es trotz der ausladenden Sonnenschirme richtig heiß ist. Viele Dutzend Mal, bis die Füße schmerzen und der Kopf brummt, acht Stunden am Tag. Sein Monatslohn ist der Mindestlohn: 950 Euro. Doch dank des Trinkgelds kann Emilio diesen Lohn verdoppeln.

So viel Glück hat Mónica nicht. In ihrem Ferienjob gibt es kein Trinkgeld. Sie räumt in einem Supermarkt im Aufsteigerviertel Trafalgar nördlich des Zentrums Regale ein. Rund 900 Euro brutto bekommt sie monatlich, offiziell ist es ein Sechs-Stunden-Tag, in Wirklichkeit aber werden es meist acht, ohne dass dies abgerechnet würde. Auch sie läuft viele Male am Tag vom Magazin in den Geschäftsraum. Überall weht die Klimaanlage, mitten im Sommer hat sie deshalb Schnupfen. Jeden Abend fällt sie vor Müdigkeit ins Bett, so wie Emilio.

Die meisten neuen Arbeitsplätze entstehen im Tourismus

Die beiden haben noch mehr gemeinsam: Der 29-jährige Emilio hat ebenso wie die zwei Jahre jüngere Mónica ein Masterstudium mit guter Note abgeschlossen, er in Architektur, sie in Kulturwissenschaften. Beide wohnen bei ihren Eltern, beide sind dank ihrer Ferienjobs aus der Arbeitslosenstatistik gefallen, und beide regen sich in gleicher Weise auf, wenn sie im Fernsehen Wirtschaftsminister Luis de Guindos oder irgendeinen Bankdirektor sagen hören: "Wir haben die Krise überwunden!" Auch viele Leitartikler vertreten diese Meinung in ihren Kolumnen zum 10. Jahrestag des Ausbruchs der weltweiten Finanzkrise.

Emilio und Mónica gehören zu den Unter-30-Jährigen, die man hier nun oft die "verlorene Generation" nennt. Eigentlich handelt es sich um die am besten ausgebildete Generation in der Geschichte Spaniens, doch die überwältigende Mehrheit bekommt nach dem Studium erst einmal nur prekäre, überdies befristete Jobs. Nach einer Studie des Gewerkschaftsbundes UGT betrifft dies 90 Prozent der Stellen für die jungen Leute unter 30 Jahren. Das Wort von der "Generation der Kellner und Pizzaboten" macht die Runde.

Dabei sehen die Eckdaten der Wirtschaft viel besser aus, als dies noch vor wenigen Jahren die kühnsten Optimisten gehofft hatten. Vor knapp einem Jahrzehnt platzte in Spanien eine riesige Immobilienblase und brachte erst den Bankensektor, dann die gesamte Volkswirtschaft in Schieflage. Ein milliardenschweres Konjunkturprogramm des damaligen sozialistischen Premiers José Luis Zapatero verpuffte wirkungslos, doch das rigide Sanierungsprogramm seines konservativen Nachfolgers Mariano Rajoy schlug an. 2017 ist das dritte Jahr in Folge mit spürbarem Wachstum, mit drei Prozent ist Spanien der Spitzenreiter unter den großen EU-Ländern. Die Arbeitslosigkeit ist von knapp 26 Prozent 2012 auf 17 Prozent gesunken, Tendenz weiter fallend.

Doch die meisten neuen Arbeitsplätze entstehen im Tourismus, der auch dieses Jahr wieder neue Besucherrekorde meldet - und diese Jobs erfordern meist keine Hochschulausbildung, sind miserabel bezahlt und enden mit der Saison.

Die spanischen Universitäten waren in den Boomjahren vor der Krise stark ausgebaut worden. Heute weiß man, dass die Planungen auf völlig überzogenen optimistischen Annahmen beruhten, weitgehend losgelöst von den Möglichkeiten des öffentlichen Dienstes und des freien Marktes. Jedenfalls ist es Tatsache, dass vier Fünftel der Hochschulabsolventen auch drei Jahre nach dem Examen noch keine der Ausbildung entsprechende Stelle mit Aufstiegschancen gefunden haben.

Im Gefolge der Krise wurden auch im Bildungssystem und den Kultureinrichtungen kräftig Stellen und Ausgaben gekürzt - Mónica hat auf absehbare Zeit keine Chance, hier Fuß zu fassen. Nicht besser geht es Emilio: Wegen der Immobilienkrise mussten nicht nur viele Baufirmen schließen, sondern auch Architektenbüros. Nach Angaben des Bildungsministeriums können nur etwa 40 Prozent der jungen Architekten nach dem Abschluss des Studiums eine sozialversicherungspflichtige Arbeit aufnehmen; dabei sagt diese Statistik nichts darüber aus, ob sie auch entsprechend ihrer Qualifikation angestellt werden. Von den Kulturwissenschaftlern landen 60 Prozent erst einmal in der Arbeitslosigkeit; sie bekommen nicht einmal Stellen, für die sie überqualifiziert sind, weil ihr Abschluss generell als Beleg für Praxisferne gilt.

Mehr als 80 Prozent der Spanier leben im Eigenheim. Das macht sie so unflexibel

Doch es gibt auch andere Statistiken, die ein spezifisch spanisches Problem beleuchten: Von den offiziell gemeldeten Arbeitslosen sind nur etwa 15 Prozent bereit, ihre Heimatregion zu verlassen, unter den jungen Leuten ist die Mobilitätsquote nur unwesentlich höher. Der Grund: Mehr als 80 Prozent der Spanier leben in den eigenen vier Wänden, es handelt sich um die höchste Quote an Eigentumswohnungen in Europa, sie ist etwa doppelt so hoch wie in Deutschland. Wer bei sich wohnt, spart die Miete - und die ist in Zentren wie Madrid, Barcelona, Bilbao oder Sevilla, wo die Arbeitslosenquote relativ niedrig und der Arbeitsmarkt in Bewegung ist, zu hoch für junge Leute mit prekären Jobaussichten. Der Staat bietet zwar finanzielle Hilfen für den Umzug der jungen Arbeitsuchenden an, doch nur ein Bruchteil der Betroffenen beantragt sie. Man zieht es vor, am Heimatort oder in der Nähe zu bleiben. Auch weil in Spanien die Familienbande nach wie vor stark sind, was die Probleme der Arbeitslosigkeit in der jungen Generation erheblich abmildert.

Emilio und Mónica wissen, dass sie nach dem Ende der Sommerferien ihren Eltern weiter auf der Tasche liegen werden. Dass er nun als Empfänger des Mindestlohns nur Kleinbeträge in die Sozialkassen einzahlt, dass er also, bliebe es dabei, im Alter nur eine Armenrente bekäme, daran will Emilio nicht denken. Er steht damit nicht allein: Laut der offiziellen Statistik zahlen von den derzeit 30-Jährigen nur 45 Prozent in die Sozialversicherung ein. Eine Generation "im Nirgendwo" nannte sie ein Leitartikler des angesehenen Online-Journals El Periódico. Bei dem Journal arbeiten einige der besten Absolventen des Madrider Journalistikinstituts, die in den Krisenjahren keine Stelle bei einer der etablierten Redaktionen bekommen haben, weil dort Einstellungsstopp herrschte. Trotz allem freut sich Mónica auf eines: "In der nächsten Woche ist die Plackerei vorbei!" Doch was kommt dann? Emilio zuckt mit den Schultern.

© SZ vom 26.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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