Slowakei:Zu Besuch im Wirtschaftswunderland

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Die Slowakei hat die magische Einheitssteuer von 19 Prozent eingeführt. Die Unternehmen freut's, so manchen Arbeitnehmer ärgert's: Trotzdem würde wohl selbst Sozialdemokrat Fico sich nicht trauen, die berühmte Flat Tax wieder abzuschaffen.

Klaus Brill

Es war so ähnlich wie bei Bill Gates, nur haben Stefan Dobak und seine Freunde, "eine Gruppe von Freaks", wie er sagt, ihre Software-Firma vor 15 Jahren nicht in einer Garage gegründet, sondern in einem Wohnzimmer.

Bei den Unternehmen klingeln dank der Einheitssteuer die Kassen, bei den Arbeitnehmern kommt meist weniger an. (Foto: Foto: ddp)

Heute, mit 33 Jahren, dirigiert der agile Plauderer als Geschäftsführer der Firma Gratex International in Bratislava nicht weniger als 260 Beschäftigte.

Für 30 weitere offene Stellen sucht er seit längerem Aspiranten, vor allem Software-Ingenieure, und findet sie nicht, obwohl deren Einkommen in Bratislava von der Kaufkraft her kaum noch niedriger sei als etwa in Deutschland.

Bratislava brummt

Womit gleich schon einmal gesagt ist, mit welchem Tempo die wirtschaftliche Aufholjagd der Slowakei inzwischen vonstatten geht. Die Dinge sind so mächtig im Fluss, dass sie nach Meinung des Jung-Unternehmers Dobak auch dann nicht zum Stehen kommen, wenn bei der Parlamentswahl im Juni die bisherige christdemokratisch-neoliberale Regierung abgelöst wird und die Sozialdemokraten an die Macht kommen, die die radikalen Wirtschafts- und Sozialreformen zum Teil rückgängig machen wollen.

Stefan Dobak, der zum braunen Anzug und gemusterten Hemd einen gepflegten Drei-Tage-Bart trägt, ist so ungebremst optimistisch, schwärmt so unverbrämt vom "absolut perfekten Klima für das IT-Business in der Slowakei", dass er als Bannerträger all dessen, was Unternehmer weltweit an der Slowakei so fasziniert, bestens taugt.

44 Zertifikate von Partnerfirmen, große Namen wie Allianz, IBM, Microsoft oder Siemens darunter, zieren die Wand in seinem hellen Besprechungsraum; die Firma sitzt in einem neuen Gebäude in einem neuen Viertel, aus dem Fenster fällt der Blick auf andere neue Häuser und einen Kran.

Bratislava brummt, die Slowakei brummt, wenn auch noch nicht überall. Das Wirtschaftswachstum lag 2005 bei 6,0 Prozent, im vierten Quartal sogar bei 7,5 Prozent - ein Rekord im ganzen mitteleuropäischen Raum. Der Umbruch, den das Kabinett des Ministerpräsidenten Mikulas Dzurinda seit 1998 und vor allem seit 2002 ins Werk gesetzt hat, zeigt kräftige Wirkung, wenn auch nicht überall die gleiche. Wer ein paar Tage durchs Land reist, mit Unternehmern, Politikern und Bürgern redet, gewinnt jedenfalls den Eindruck, dass hier noch immer Außergewöhnliches vor sich geht.

Enttäuschte Arbeitnehmer

Klar, dass die berühmte Flat Tax, die Einheitssteuer von 19 Prozent auf alle Einkommen, Waren und Dienstleistungen, all jene freut, die vorher bis zu 38 Prozent abgeben mussten oder als Unternehmer neu im Land investieren.

Andererseits lässt sich quasi nichts mehr von der Steuer absetzen, auch keine Verluste, so dass Firmen ihre Hauptquartiere gerne woanders belassen.

Und Arbeitnehmer sind teilweise bitter enttäuscht. Bei einer Umfrage des Forschungsinstituts MVK zur Steuerreform erklärten 30 Prozent der Befragten, ihr Einkommen sei seit der Einführung der Einheitssteuer am 1. Januar 2004 geringer geworden, 40 Prozent meinten keine Veränderung zu bemerken und bei nur sieben Prozent verbesserte sich das Einkommen.

Zufrieden war vor allem, wer mehr verdient als 526 Euro, wobei das Durchschnittseinkommen 437 Euro im Monat beträgt.

Zurück zu progressiven Steuern?

Insgesamt stiegen die Steuereinnahmen aber schon im Jahr 2005 überraschend schnell um etwa ein Viertel über das Niveau von 2003 - vermutlich auch, weil weniger hinterzogen wurde. Das zeigen zumindest vorläufige Berechnungen. Finanzminister Ivan Miklos teilte unlängst mit, sein Haus prüfe weitere Steuersenkungen.

Hingegen kündigte Robert Fico, der Gründer und Führer der sozialdemokratisch ausgerichteten Partei Smer (Richtung) an, nicht nur die Privatisierungen der jüngsten Zeit zu durchleuchten und teilweise rückgängig zu machen, sondern auch die Einheitssteuer wieder abzuschaffen.

Ein Smer-Kongress im Dezember beschloss, zur progressiven Steuerstaffelung zurückzukehren und auch die einheitliche Mehrwertsteuer von 19 Prozent für bestimmte Güter wie Lebensmittel, Medikamente und Bücher wieder zu senken; außerdem soll der Fiskus wieder bei Dividenden zugreifen können.

Da Robert Fico mit Abstand der beliebteste Politiker und seine Smer bei Umfragewerten von 30 bis 35 Prozent mit Abstand die stärkste Partei ist, werden solche Ankündigungen genauestens beachtet.

"Nichts, was gegen das Geschäft geht"

Andererseits ist unklar, wen Smer als Koalitionspartner für eine Mehrheitsbildung gewinnen will - unter Umständen könnte es nur eine der bisherigen Regierungsparteien sein, die die Reform der Reform sicher abblocken würde.

Des Weiteren gibt es viele, und der Gratex-Chef Stefan Dobak gehört zu ihnen, die Fico als Pragmatiker und als Mann der Geschäftswelt einschätzen. Man kennt Ficos Freunde aus der Wirtschaft, die ihn finanzieren, "und ich kann mir nicht vorstellen, dass die ihm etwas erlauben, was gegen das Geschäft geht", sagt Dobak.

Viele Menschen mussten aber umschulen. Auch das Rathaus hat sich verändert. Die Bürger finden in der Eingangshalle jetzt ein Kundenzentrum vor, in dem sie alles an einer großen Theke erledigen können.

Doch in den Köpfen, sagt der Bürgermeister, ein Konservativer, "da hat der Kommunismus tiefe Spuren hinterlassen im Denken der Leute". Manchen Menschen sei der Erfolg anderer verdächtig, "der Neid ist wirklich sehr groß".

Dies muss nicht unbedingt erstaunen, da die Reformen doch manchen auch wehtun. Neben der Umstellung des Steuersystems, der Renten- und Sozialversicherung, des Gesundheits- und des Schulwesens haben die Menschen auch drastische Erhöhungen der Strom-, Gas- und Wasserpreise zu verkraften.

Umstrittene Stimulantien

Das kann dazu führen, dass ein Mann wie der Angestellte Marek Baluska in Nitra sein halbes Monatsgehalt für Energie, Benzin und Mobiltelefon ausgeben muss. "Wenn meine Frau nicht arbeiten würde, wäre das eine Katastrophe für die Familie", sagt er. Trotzdem hält Baluska die großen Veränderungen für unumgänglich.

Ganze Bevölkerungsgruppen wie die Rentner müssen mit wirklich wenig Geld auskommen, manchmal weniger als je zuvor im Leben - 250 Euro im Monat zum Beispiel. Es gibt auch die Roma, die nicht nur in der Slowakei aus vielerlei Gründen in schwierigen Umständen leben.

"Alle Geschäftsleute denken, dass es keinen Weg gibt, wie man wirklich zurückdrehen kann, was bisher gelaufen ist." Was Fico mit allen Neuerungen ja auch gar nicht vorhat. Im Übrigen hält laut Umfragen die Mehrheit der Bevölkerung das Reformpaket für notwendig - trotz aller Opfer. Nur die Gesundheitsreform geht den Menschen offenbar zu weit.

Der Wandel geht voran. Es gibt Boomzonen wie Bratislava, wo demnächst das ganze Hafenareal ökonomisch aufgeforstet wird und wo Oberbürgermeister Andrej Durkovsky in seinem weiten historischen Amtszimmer von der Zusammenarbeit mit seinem Kollegen in Wien berichtet - die österreichische Hauptstadt liegt nur 50 Kilometer donauabwärts, schon ist das Wort von der twin city in der Welt.

Bratislava, dessen historischer Kern gründlich saniert wurde, soll eine "weiße Stadt" werden, mit leichter Industrie. 500.000 Einwohner hat sie, bis zu 200.000 Menschen pendeln täglich ein, da gibt es Staus, der Boom wird fast schon zur Qual.

"Tiefe Spuren" in den Köpfen

Die Arbeitslosenquote von gut 2,5 Prozent ist als Indiz der Vollbeschäftigung anzusehen, das VW-Werk am Stadtrand hat noch Stellen frei, auch PSA Peugeot Citroen sucht im weiten Umkreis Facharbeiter für den neuen Betrieb in Trnava nordöstlich der Hauptstadt, der in diesem Sommer die volle Produktion aufnimmt.

Gut lachen hat auch Bronislav Celler, der junge Bürgermeister von Trencin, einem historischen Städtchen mit 59.000 Einwohnern im Nordwesten des Landes.

Unter kommunistischer Herrschaft war die Region Standort großer Rüstungsfirmen, jetzt haben sich Forschungseinrichtungen wie Johnson Controls angesiedelt, es gibt Hochschulen, Sportstätten, eine schöne Burg, die Arbeitslosigkeit liegt unter fünf Prozent.

Und es gibt ganze Regionen, vor allem im Osten, die in der Entwicklung notorisch hinterherhinken. Im Raum Kosice-Presov-Banska Bystrica liegt die Arbeitslosenrate teilweise über 20 Prozent. Der Bau von Autobahnen dorthin - auch das ein Wahlkampfthema - ist einer der Ansätze für das Überbrücken der Unterschiede, an neuen Strecken wird gearbeitet.

Außerdem hat die Regierung besondere Förderprogramme aufgelegt: Das Land wurde in drei Zonen eingeteilt, je nach Bedarf werden Investitionen jetzt gar nicht oder stark bezuschusst.

Derlei Stimulantien sind umstritten, erst vor zwei Wochen hat das Kabinett zehn Zulieferern des südkoreanischen Autoproduzenten Hyundai-Kia, der in Zilina eine neue Fabrik errichtet, Zuschüsse von 21 Millionen Euro verweigert. Der 2005 geschasste Wirtschaftsminister Pavol Rusko hatte sie zugesagt und auch dem südkoreanischen Reifenhersteller Hankook Avancen gemacht, die das Kabinett ebenfalls kassierte.

Hankook baut jetzt nach hartem Poker sein Werk für 500 Millionen Euro in Ungarn. Die slowakische Konkurrenz ist zufrieden. "Wir sagen nur: gleiche Regeln für alle", meint Dusan Koblisek, Sprecher der Reifenfirma Matador in Puchov, die mit 5200 Beschäftigten auch Fließbänder und Autoteile herstellt. "Wir zahlen Steuern, und es ist nicht normal, dass von unseren Steuern ein ausländischer Investor bezahlt wird."

Gesunder neuer Unterbau

Auch das Matador-Geschäft wächst, derzeit um mehr als zehn Prozent, und Ähnliches kann Ladislav Svihel berichten, der Generaldirektor der Firma Agrokomplex-Vystavnictvo, der größten slowakischen Messegesellschaft, die am Stammsitz in Nitra auch ein ausladendes Landwirtschaftsmuseum mit 28.000 Exponaten betreibt. 2005 kamen sechs Prozent mehr Besucher zu den Messen, die Ausstellungsfläche erweiterte sich um zwölf Prozent, die Zahl der ausländischen Aussteller um 38 Prozent.

Die Firma ist noch immer im Staatsbesitz, und Ladislav Svihel, ein Patron alten Schlages, der in schwerem dunklem Mobiliar residiert, sieht "überhaupt keine Notwendigkeit", sein Unternehmen zu privatisieren, wo die Geschäfte doch bestens laufen.

Ihm liegt am Herzen, dass sich in der Slowakei ein neuer Mittelstand herausbildet, der der Ökonomie einen gesunden Unterbau gibt und der ein Gegengewicht zu den großen internationalen Firmen bildet.

Denn manche ausländische Investoren werden womöglich - und das sieht nicht nur Ladislav Svihel so - in zehn oder 15 Jahren schon weiterziehen, in die Ukraine, nach Rumänien oder nach Asien, wo die Investitionsbedingungen dann vielleicht günstiger und vor allem die Arbeitslöhne niedriger sind. Bis dahin wollen es die Slowaken schaffen, auf eigenen Füßen zu stehen - und zu gehen.

© SZ vom 18.2.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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