Siemens baut Werk in Chengdu:Kopie in China

Lesezeit: 5 min

Bundeskanzlerin Angela Merkel, rechts neben ihr Konzernchef Joe Kaeser, im vergangenen Jahr beim Besuch der digitalen Fabrik von Siemens in Amberg. Im chinesischen Chengdu gibt es eine Kopie des oberpfälzischen Werkes. Die hat Siemens selbst gebaut. (Foto: Lennart Preiss/Getty Images)

Die Regierung in Peking will die Industrie des Landes digitalisieren. Ein Besuch im neuen Vorzeigewerk von Siemens in Chengdu, das die Fabrik in Amberg zum Vorbild hat.

Von Christoph Giesen, Chengdu/Amberg

Wer sehen möchte, wie sich Siemens die Zukunft vorstellt, den bittet das Unternehmen normalerweise in die strukturschwache Oberpfalz. Dort hat Siemens im Jahr 1989 in Amberg ein Elektronikwerk aufgemacht. "Die beste Fabrik Europas" nennt sich das Werk inzwischen selbstbewusst. Auf Bannern, auf T-Shirts, überall ist der Slogan zu lesen.

Im Werk haben sie extra eine Balustrade mit blauem Geländer einziehen lassen, damit die Besucher jeden Arbeitsschritt beobachten können. Und Gäste kommen wirklich viele vorbei, denn das Elektronikwerk ist die Vorzeigefabrik des Konzerns, hier werden Steuerungen für Maschinen gebaut, die später einmal die Maschinen in anderen Fabriken steuern werden. Doch nun ist Amberg nicht mehr allein. In Chengdu, im ebenfalls strukturschwachen Westen Chinas, hat Siemens ein Schwesterwerk errichten lassen, ein chinesisches Amberg mit Balustrade und einem Geländer.

Wie in Amberg sind in Chengdu etwa 75 Prozent der Produktion automatisiert, jedes Teil bekommt einen Strichcode, später lässt sich damit jeder Arbeitsschritt nachvollziehen. Auf kleinen Schlitten, in der Fachsprache Carrier, gleiten die Module über Förderbänder - von Arbeitsschritt zu Arbeitsschritt. Ist an einer Station gerade zu viel Andrang, dann sucht sich das System selbständig einen freien Arbeitsplatz.

Die Mitarbeiter in der Fabrik überwachen meistens nur noch oder justieren die Geräte. Der Rest erfolgt automatisch.

Menschen machen zu viele Fehler. Maschinen sollen präzise Produktion übernehmen

Im vergangenen Jahr war Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Besuch in Amberg. Durchs Werk führte sie damals der Standortleiter Karl-Heinz Büttner, ein Techniker durch und durch, der gerne in Zahlen und Kürzeln spricht, wie so viele bei Siemens. "500 dpm", sagte Büttner, das sei die Fehlerrate, eines jeden Menschen. Dpm, das steht für "Defects per Million". Also alle Fehler, die bei einer Million Bauteile auftreten. Seine Fabrik, sagte Büttner, liege bei 11,5 dpm. In Prozent umgerechnet entspricht das einer Fehlerquote von 0,00115. Und das könne man nur durch Digitalisierung erreichen.

Auch der chinesische Karl-Heinz Büttner spricht am liebsten über seine dpm-Rate. Li Yongli heißt er und leitet seit Ende 2013 das Werk in Chengdu. Zuvor hat er drei Jahre in Amberg verbracht. Li spricht Englisch, das ist die Kommunikationssprache bei Siemens. Und doch rutscht immer wieder ein einziges Wort auf Deutsch raus: "Fehlerrate", sagt er dann. Sein dpm-Wert liegt auf Amberger Niveau. Und darauf ist er sehr stolz.

60 Prozent der Produktion in Chengdu sind für den chinesischen Markt bestimmt, 40 Prozent gehen in die Welt. Noch ist das Werk in Chengdu mit 3000 Quadratmetern deutlich kleiner als in Amberg, wo auf 10 000 Quadratmetern gefertigt wird. Die Erweiterung auf 6000 Quadratmeter steht aber kurz bevor. Denn die Nachfrage ist groß. Verantwortlich dafür ist vor allem die chinesische Regierung.

Im vergangenen Jahr stellte die Führung in Peking ihre sogenannte "Made in China 2025"-Strategie vor. Chinas Wirtschaft soll grüner und innovativer werden und die chinesischen Produkte besser - kein Ramsch mehr. Zehn Industrien haben Chinas Wirtschaftsplaner dafür ausgemacht, von der Zugindustrie, über Autoproduktion bis hin zur Pharmabranche, sie alle sollen höhere Qualität liefern. Die Lösung dafür haben Pekings Beamten in Deutschland gefunden: Die Digitalisierung der Produktion, die Industrie 4.0.

Die erste Phase der Industrialisierung, da sind sich Wirtschaftshistoriker einig, setzte ein, als der Engländer James Watt die Dampfmaschine erfand. Wann genau der zweite große Sprung der Industriegeschichte begann, ist schon schwieriger zu ermitteln. Waren es die Schlachthäuser in Chicago mit ihrer Fließbandarbeit oder war es erst Henry Ford, der im Akkord sein Modell T schrauben ließ? Unstrittig ist jedoch, dass die meisten chinesischen Fabriken fast noch immer genauso fertigen.

Die dritte und vierte Phase sind noch verschwommener. Phase drei: In den Siebzigerjahren begann die Automatisierung, Roboter wurden in der Produktion eingesetzt, die ersten Maschinen waren ausgerüstet mit Chips und Steuerungen.

Inzwischen steht die vierte Phase bevor: Die Digitalisierung der Industrie. Im Klartext bedeutet das: Ein Produkt stellt sich mehr oder weniger von selbst her. Wie in Amberg oder jetzt in Chengdu.

Auf dem Weg vom Flughafen kommt man in Chengdu an einem Werk von Foxconn vorbei. Der taiwanesische Hersteller lässt in seinen Fabriken in China fast jedes Smartphone der Welt zusammensetzen. In den Hallen in Chengdu löten und kleben 80 000 Arbeiter sämtliche iPads von Apple - und fast alles geschieht noch in Handarbeit. Klassische Industrie 2.0.

Kuka sei okay. Doch am liebsten hätte er ein chinesisches Siemens, sagt der Funktionär

Bei Siemens in Chengdu sind es nicht einmal 500 Mitarbeiter. Viele davon haben in den vergangenen Jahren das Schwesterwerk in Amberg besucht. Aber auch aus Deutschland kamen Spezialisten nach Chengdu. Zu Spitzenzeiten waren 25 Amberger vor Ort. Jetzt ist nur noch ein Mann aus Deutschland in Chengdu, und der kümmert sich vor allem um die Zahlen.

Sollen durch die Digitalisierung Arbeitsplätze eingespart werden? Nicht unbedingt. Schaut man sich die Produktionen in Amberg und Chengdu genauer an, sind es die kleinen Unterschiede, die auffallen. Während in Amberg ein Roboter die fertigen Module verpackt, wird das in Chengdu von Arbeitern erledigt. Der chinesischen Führung geht es darum, die Qualität chinesischer Produkte zu erhöhen.

Viele chinesische Firmen verstehen die neue Strategie vor allem als einen staatlichen Einkaufszettel. Fast jeden Tag melden sich chinesische Unternehmer bei den gängigen Beraterfirmen in Deutschland und fragen an, ob es nicht eine passende Firma gebe, die man übernehmen könne. Denn chinesische Firmen, die bei der angestrebten industriellen Digitalisierung vorne liegen, dürften sich großzügige Subventionen und Staatsaufträge erhoffen.

Das prominenteste Beispiel ist der Haushaltsgerätehersteller Midea. Mikrowellen, Kühlschränke und Klimaanlagen stellt das Unternehmen bislang her - alles für den chinesischen Massenmarkt, keine besonders gute Qualität, aber preiswert. Nun aber hat sich Midea dieser Tage die beherrschende Mehrheit am Augsburger Roboterhersteller Kuka sichern können, einem Vorreiter der Industrie 4.0. In Deutschland hat das für viel Aufregung gesorgt.

Shi Yong kann das nachvollziehen. Er ist der Vizedirektor des Forschungsinstituts für Maschinenbauindustrie und Informationstechnik in Peking und er ist einer der Vordenker der chinesischen Strategie. Viel lieber als Kuka wäre es ihm allerdings, wenn China einen Konzern wie Siemens hätte. Doch bis ein chinesisches Unternehmen soweit sei, werde es noch dauern. 2010 hielt der damalige Parteichef Hu Jintao eine Rede, in der er erstmalig forderte, Chinas Wirtschaft müsse grüner und effektiver werden. "Das war der Startschuss", sagt Shi. Wenig später habe man damit begonnen, eine Strategie auszuarbeiten. Shi war von Anfang an dabei. Im Mai 2015 wurde der Plan schließlich vorgestellt, inzwischen hat die Regierung mehr als hundert Pilotprojekte genehmigt.

Haben deutsche Unternehmen die chinesische Führung beraten? Shi lacht. "Nein, direkte Gespräche gab es nicht", sagt er. Aber indirekt? "Natürlich, zum Beispiel mit Organisationen wie unserer, wir haben die Ergebnisse dann weitergetragen." Gesprochen wurde mit Amerikanern, Koreanern, Japanern und auch mit deutschen Industrievertretern. Das deutsche Modell, sagt Shi, sei das beste für China. Und wohl auch für Siemens. Das sagt er zwar nicht. Aber die Fakten sprechen dafür: Kaum ein anderes Unternehmen scheint derzeit so gut in China vertreten zu sein wie der Münchner Konzern. Und das in einem Markt, der von Jahr zu Jahr komplizierter wird.

Die Führung in Peking, aber auch einzelne Provinzregierungen, versuchen, mit allen Mitteln chinesische Unternehmen in Position zu bringen. Selbst vor manipulierten Ausschreibungen und verdeckten Subventionen wird nicht zurückgeschreckt. Ideal für Siemens ist jedoch, dass Pekings "Made in China 2025"-Strategie nahezu deckungsgleich mit dem deutschen Ansatz ist. Ebenfalls hilfreich: Im Mai verkündete die Führung in Peking fünf Billionen Yuan (das entspricht etwa zweimal dem jährlichen Bundeshaushalt) für Infrastrukturprojekte auszugeben. Für Siemens dürften auch dadurch etliche Aufträge anfallen.

Und schließlich: Im Gegensatz zu anderen großen Konzernen wie etwa den deutschen Autobauern, hat sich Siemens nie in die totale Abhängigkeit China begeben. Siemens liefert, was zumindest mittelfristig zur Erfüllung wirtschaftspolitischer Ziele notwendig ist. Das stimmt gnädig.

© SZ vom 18.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: