Schaulauf der Kreativen:Stewardessen, Stunts und Strichcodes

Lesezeit: 5 min

Warum ein paar schwarz-weiße Linien beim Werbefestival in Cannes für Zoff sorgen.

Kerstin Richter und Peter Hammer

Nie zuvor gab es so viele Einsendungen (24.863), Wettbewerbe (9) und Delegierte (8500) in Cannes wie in diesem Jahr.

Doch auch das größte Werber-Festival der Welt konnte nicht über die Verunsicherung der Branche hinwegtäuschen.

Besonders peinlich: Ausgerechnet das mit dem renomierten Titanium-Lion ausgezeichnete Siegermotiv aus Japan ist offenbar ein alter Hut - made in Berlin.

Den Cannes-Pilgern hat's gefallen: Mit tosendem Applaus goutierten sie bei der Preisverleihung im vollbesetzten Grand Auditorium die Entscheidung der Jury des Titanium-Lions.

Neuer Mediakanal

Der einzige Löwe in dieser Kategorie ging an Design Barcode, eine kleine, zwei Jahre junge Agentur aus Tokio. Die Japaner hatten die Idee, den Strichcode, der seit Jahren auf nahezu jedem Produkt prangt, zu verfremden. Die Linien bilden zum Beispiel eine Pizza oder eine Skyline. 15 Firmen haben das Design bereits übernommen, das von Design Barcode in Lizenz verkauft wird.

Probleme habe es beim Scannen der Strichcodes noch keine gegeben, versichern die Japaner. Dafür eine Publicity im Wert von einer Million US-Dollar. "Eine geniale Idee, die die Leute zum Lächeln bringt, voller Menschlichkeit", schwärmte Jury-Präsident David Lubars.

Ohne großen technischen Aufwand sei ein neuer, global einsetzbarer Mediakanal entstanden. Die Titanium-Jury hat es sich nicht leicht gemacht. Sie suchte unter den 203 Einsendungen etwas, "das wir vorher noch nie gesehen haben", erklärte Lubars. Noch nie gesehen?

Peinlich für die mit den angesehensten Werbern der Welt besetzte Jury. Denn neu ist die Idee wahrlich nicht. In Berlin arbeitet das Elektronik-Label Bpitchcontrol bereits seit sieben Jahren mit den Strichcodes, kreiert von der Pfadfinderei.

Der Skandal ist perfekt, und Codec, Chef der Designagentur und Rockmusiker, stinksauer. "Die verfremdeten Barcodes sind inzwischen unser Markenzeichen." Er fühlt sich "auf den Schlips getrampelt", dass nun andere die Lorbeeren einsacken.

Immerhin ist Cannes das weltweit wichtigste Schaulaufen der Kreativen. Wer hier Löwen erlegt, ist geadelt. Und seitdem die Kunden den Zusammenhang zwischen Kreativität und Markterfolg erkannt haben, gelten Awards auch als Kriterium bei der Wahl einer Agentur.

Codec weiß noch nicht, wie er auf die Entscheidung der Cannes-Jury reagieren wird. Jetzt wollen die Berliner erst einmal mit dem Festival-Veranstalter, der brititschen Verlagsgruppe Emap, und den Design-Kollegen in Japan Kontakt aufnehmen.

Dabei wollte die Jury nur zeigen, wie wichtig Ideen heute sind. Das bestimmende Thema in nahezu allen 39 Seminaren und elf Workshops war, wie Agenturen und Kunden mit der Fragmentierung der Märkte und Medien und dem Konsumenten, der die Kontrolle übernommen hat, umgehen können.

Das Motto der 53. Werbefestspiele in Cannes: "Woher kommen die besten Ideen?" Eine klare Antwort gab es für die 8500 Delegierten (neuer Rekord) nicht. "Das ist das Mysterium", sagte Titanium-Juror Lubars, Chairman und CCO von BBDO Nordamerika.

Männerphantasien

Dennoch zeigen einige Gewinnerarbeiten, wohin die Reise gehen kann. Eine der meistdiskutierten Kampagnen kam aus Australien von Lowe Hunt für das Deodorant Lynx (in Deutschland: Axe).

Völlig integriert spielt die Arbeit perfekt die komplette Klaviatur der Disziplinen, und das auf charmante, unterhaltsame Art und Weise.

Research hatte ergeben, dass die Markenbindung bei den 17- bis 25-jährigen Männern erodiert. Und: In diesem Alter tritt die Zielgruppe oft ihre erste größere Auslandsreise an. Also erfand Lowe die LynxJet Airline. Männerphantasien sollten wahr werden.

Aufreizend gekleidete "Stewardessen" gingen auf Promo-Tour durch Innenstädte, ein Stunt mit einem in Lynx-CI bemalten Jet sorgte für Presserummel. Eine Kabine wurde zum Lustlager umfunktioniert. TV-Spots, Internet und fiktive Flugangebote machten das Paket perfekt.

"Das Markenerlebnis wird immer wichtiger", erklärt Marianne Dölz, die deutsche Media-Jurorin (Initiative Media). Bei Lynx stimmte alles: Grand Prix bei Media und eine Reihe Löwen in anderen Kategorien, darunter Gold bei den Direct-Lions und ein Award im neuen Wettbewerb Promo.

Nach Agenturangaben sind die Verkaufszahlen innerhalb von vier Wochen um 20 Prozent gestiegen. Konkurrent Procter & Gamble, ebenfalls seit einigen Jahren auf der Suche nach innovativer Werbung, dürfte neidisch auf die Erfolge von Unilever schielen.

Eine aufwändige Arbeit. Das andere Extrem ist "Stillfree", einer der beiden Grand-Prix-Gewinner bei den Cyber-Lions. Die virale Kampagne stammt von Droga5 und setzt ausschließlich auf PR-Effekte.

Die Story: Zwei Maskierte besprühen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die Air Force One, den Jet des US-Präsidenten, mit dem Graffiti "Still free". Einer von ihnen ist Marc Ecko, der Mann hinter der gleichnamigen Modemarke. Der vermeintliche Anschlag wird mit Handkamera gefilmt und bei 23 Blogs veröffentlicht. Die PR war gigantisch. Selbst das Weiße Haus sah sich gezwungen, Stellung zu beziehen.

Natürlich war die Geschichte getürkt, eine Boeing extra umlackiert worden. "Das ist viral at it's best", lobt Juror Olaf Czeschner. Die Aktion verbinde das Produkt und die Attitüde der Marke mit einer politischen Botschaft, nämlich Meinungsfreiheit.

"Eine clevere Idee, die zur Marke passt", sagt der Kreativchef von Neue Digitale.

Keine der neun Jurys, in der nicht über Themen wie Markenerlebnis, Branded Entertainment und Consumer Insights gesprochen wurde. Schlimmer noch, Agenturen wie Kunden müssen sich mit dem Gedanken anfreunden, die Marke in die Hände der Konsumenten - pardon, der Audience - zu geben. VW GTI hat sich in den USA ein Stück weit darauf eingelassen.

So konnten potenzielle GTI-Käufer via Web ihre Vorstellungen von "Fast", also "schnell", formulieren. Aus dem Input hat Crispin Porter + Bogusky, Miami, eine Figur kreiert, die in Spots zum Einsatz kam und als dreidimensionale Vinylfigur auf eBay Preise von bis zu 1000 US-Dollar erzielte: Grand Prix im neuen Wettbewerb Promo-Lions.

Viel Zeit hatte diese Jury damit verbracht, die Kriterien für die neue Kategorie zu definieren. Am Ende wurde laut Jury-Präsident Lor Gold "alles akzeptiert, was die Marke promotet". Das Spektrum reichte von kleinen Ideen - wie die Serviceplan-Arbeit für Giller-Reisen, bei der auf verschneiten Autoscheiben Reiseangebote in den Süden geschrieben wurden - bis hin zu vernetzten Kampagnen (siehe GTI). "Es gibt keine Grenze mehr zwischen Above und Below the Line", resümiert Direct-Juror Stefan Schmidt (TBWA).

Einfach bestechen

Klar abgrenzen lässt sich nur mehr der Bereich Press. "Keine Veränderung", konstatierte Gepa Hinrichsen von der Zoo Werbeagentur. "Die einfachen Ideen bestechen", sagt die deutsche Jurorin, aber das tun sie schon seit Jahren. Allerdings sind die Anforderungen an das Artwork gestiegen. Eine noch so gute Idee fiel bei den Preisrichtern durch, wenn die Exekution nicht überzeugte.

Trotzdem musste Jury-Präsident David Droga bei der Findung des Grand Prix kräftig nachhelfen. Denn so richtig begeistert waren die Press-Juroren von keiner der 7387 Einsendungen. Droga sprach das Machtwort: Lego (FCB Johannesburg) bekam den Preis.

Anders bei Film: Dort mussten sich die 22 Juroren zwischen drei großartigen Commercials entscheiden: dem Sony-Spot "Balls" von Fallon London, dem Carlton-Draught-Beer-Film "Big Ad" (George Patterson Y&R) und dem bereits vielfach prämierten Guinness-Spot "NoitulovE" von AMV BBDO aus London. Letzterer machte das Rennen um den Grand Prix.

Dem Film sei es gelungen, die alte Kampagne "Good things come to those who wait" neu aufzuladen. Seit Jahren überzeugt Guinness mit einem originären Kampagnenkonzept. Zum Song "Rhythm of Life" aus dem Musical "Sweet Charity" begeben sich drei Kerle auf die Reise zurück zu den Anfängen der Evolutionsgeschichte - in den Schlamm. Der rund zwei Millionen Dollar teure Film lebt von der aufwändigen Produktion (Kleinman Production, London).

Bei Film, nach wie vor Lieblingskategorie der Kreativen, holten die deutschen nur einmal Silber und einmal Bronze. "Mehr war nicht drin", sagte Juror Frank Dopheide (Grey). Es fehlten die großen Filme, die Ausreißer nach oben, wenngleich ein deutscher Werbeblock im Durchschnitt deutlich besser sei als in anderen Ländern. Aber: "Wir schwimmen im eigenen Saft. Uns fehlt der internationale Blick."

Silber gewann DDB Düsseldorf mit den animierten "Shortbutfun"-Filmen für den VW Fox. Beim deutschen ADC waren die Arbeiten durchgefallen. Die Jury monierte, die gleiche Idee sei bereits für ein Kurzfilmfestival eingesetzt worden. Die Cannes-Preisrichter diskutierten zwar darüber, gestört hat es sie aber nicht. Dopheide: "Es ist eine großartige Idee, die perfekt zur Marke passt." Keine Überraschung war der zweite deutsche Gewinner. Wie erwartet, gewann die Hamburger Nordpol mit dem Spot "Crashtest" für Renault Bronze.

Nach der Bewertung von 24863 eingereichten Arbeiten lässt sich festhalten: Die Revolution blieb aus. Wer bahnbrechende Lösungen erwartet hatte, wurde enttäuscht. Doch bei den Themen integrierte Kommunikation und medienneutrale Idee kommt die Branche in kleinen Schritten voran.

© Quelle: werben & verkaufen - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: