Essay:Ein Ruck für Europa

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Die Attentate von Paris waren ein Anschlag auf uns alle. Deshalb müssen wir Europäer jetzt enger zusammenrücken. Nur so können wir Terrorismus und Flüchtlingskrise bewältigen.

Von Martin Schulz

Die Terrorattentate von Paris haben uns alle tief erschüttert. Terroristen ermordeten wahllos und heimtückisch mehr als 120 unschuldige Menschen - im Konzertsaal, im Restaurant, beim Fußballstadion, auf der Straße. "Jeden von uns hätte es treffen können", genau diese Angst wollen die Terroristen in unseren Herzen einpflanzen. Die Attentate von Paris waren ein Anschlag auf uns alle. Deshalb müssen wir jetzt umso enger zusammenstehen; und wir dürfen uns nicht von dem Hass der Attentäter vergiften lassen, sondern uns allen Populisten in den Weg stellen, die Ängste schüren und gegen andere hetzen.

Wenn jetzt von einigen gefordert wird, nach Paris müsse die Flüchtlingspolitik geändert werden, dann ist das eine beschämende Instrumentalisierung der Opfer. Wenn wir jetzt Flüchtlinge aus Syrien unter Generalverdacht stellen, Islam und Islamismus gleichsetzen, dann hat der sogenannte Islamische Staat uns seine Kategorien eines Krieges der Kulturen aufgezwungen; dann sehen wir die Welt bereits mit den ideologischen Scheuklappen der Fanatiker; dann machen wir aus Opfern Täter, denn die Flüchtlinge suchen ja gerade Schutz bei uns, weil sie vor der Barbarei dieser Mörderbanden fliehen!

Illustration: Lisa Bucher (Foto: SZ)

Der Realismus gebietet, dass wir mindestens drei Fakten in der aktuellen Flüchtlingspolitik anerkennen: Erstens, solange der Bürgerkrieg in Syrien andauert, werden Menschen vor den Bomben Assads und der Brutalität des IS fliehen. Zweitens, solange syrische Flüchtlinge in den Nachbarländern Syriens nicht nur keine Zukunft haben, sondern auch keine menschenwürdige Gegenwart, werden sie sich auf den Weg zu uns machen. Drittens, solange kriminelle Netzwerke und unilaterale Entscheidungen von Mitgliedstaaten den Lauf der Ereignisse diktieren, werden Menschen ihr Leben verlieren und sind auch unsere europäische Zusammenarbeit und auch unsere hart erkämpfte Freizügigkeit in Gefahr.

Wir werden die epochale Herausforderung der Flüchtlingskrise nur meistern können, wenn wir als Europäerinnen und Europäer solidarisch zusammenstehen. Eigentlich sollte dies eine intuitive Erkenntnis sein, denn die europäische Einigung fußt ja gerade auf der Erkenntnis, dass wir gemeinsam stärker sind als es jeder für sich alleine ist und dass unsere eigenen Interessen mit den Interessen unserer Nachbarn aufs Engste verwoben sind.

Eine Million Flüchtlinge auf 507 Millionen Menschen zu verteilen - das geht

Auch in Deutschland hört man immer mehr Stimmen, die sagen, dass langsam die Grenze der Belastbarkeit erreicht sei. Und es gibt Gemeinden, die sind sichtbar an der Grenze der Belastbarkeit angekommen. Der gesunde Menschenverstand sagt einem allerdings, dass eine Million Flüchtlinge unter 507 Millionen Menschen in 28 Ländern zu verteilen deutlich leichter verkraftbar sein sollte. Die Wirtschaftsweisen hatten recht, als sie vor einer Woche sagten: Aufgrund der offenen Grenzen handelt es sich bei der Flüchtlingskrise um eine europäische Herausforderung, bei der man auch europäische Solidarität einfordern darf.

Doch die Krux mit der Solidarität ist nun einmal, dass man sie nicht auf jene wenigen Politikfelder begrenzen kann, bei denen man sich den größten Eigennutz davon verspricht. "Ja gerne" zu Strukturfondsmitteln aber "nein danke" zu Flüchtlingsquoten sagen, das geht ebenso wenig wie die Vorteile des Euros genießen, aber keine Stabilitätsregeln einhalten oder keine Bankenunion haben wollen.

Und doch findet sich genau diese Einstellung im Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs. Globalen Herausforderungen wird da mit Erbsenzählermentalität begegnet, jeder schaut nur auf seinen eigenen kleinen Vorteil. Vom Grundsatz habe ich Verständnis für einen Regierungschef, der auch im Europäischen Rat die Wahrung der Interessen seines Landes als seine erste Aufgabe betrachtet. Nur ergibt die Addition von 28 nationalen Interessen nun mal nicht automatisch das europäische Allgemeinwohl. Dieses Handeln führt dazu, dass die gleichen Leute, die von Europa Problemlösungen verlangen, sich von Gipfel zu Gipfel hangeln ohne Ergebnis und anschließend Europa für unfähig erklären, Probleme zu lösen.

Doch nicht nur in der Flüchtlingspolitik, auch in anderen Politikfeldern zeigen sich gravierende Probleme. Anstelle von langfristigem, vorausschauendem Handeln tritt immer mehr kurzfristiger Aktionismus. Da wird ein Krisengipfel nach dem anderen einberufen, erst zur Finanzkrise, zur Eurokrise, dann zur Jugendarbeitslosigkeit, dann fand ein Griechenlandgipfel nach dem nächsten statt, seit dem Sommer jagt ein Gipfel zur Flüchtlingskrise den nächsten, nur um jetzt vielleicht bald von Anti-Terror-Treffen abgelöst zu werden. Kaum taucht ein neues Thema, eine neue Krise am Horizont auf, dann verlieren wir andere, eben noch für so drängend befundene Probleme völlig aus dem Blick.

Unsere gemeinsame Währung muss sturmfest gemacht werden? Die Finanzwelt re-reguliert? Die Wirtschafts- und Währungsunion gehört vollendet? Nicht nur aus der öffentlichen, und medialen sondern auch aus der politischen Diskussion ist dieses Thema fast verschwunden. Ohne Zweifel, die Flüchtlingskrise ist eine epochale Herausforderung. Aber folgt daraus, dass wir alle anderen Politikfelder ausblenden müssen? Alle Projekte unvollendet stehen oder gar fallen lassen, von deren existenzieller Bedeutung für unsere Zukunft wir noch vor ein, zwei Jahren zutiefst überzeugt waren?

In den letzten Jahrzehnten ging die Europäische Union aus Krisen gestärkt hervor, meist wurde als Antwort eine Vertragsänderung gegeben. Das will ich keinesfalls propagieren. Aber die Gesetzesvorhaben, die wir zur Krisenlösung und Krisenvorbeugung auf den Weg bringen, die müssen wir schon auch zu Ende bringen.

Vor zwei Jahren hielt ich auf dem Wirtschaftsgipfel der Süddeutschen Zeitung ein Plädoyer für die Bankenunion. Die Bankenunion, so sagte ich damals, sei ein historisches Projekt, das in seiner Bedeutung nur mit dem Binnenmarkt vergleichbar sei. Durch die Bankenunion sollten der Teufelskreis zwischen Bankschulden und Staatsschulden gesprengt und der Steuerzahler dadurch geschützt werden. Banken sollten für Banken haften, so die Grundidee. Manche sagen nun, es sei doch unfair, wenn Banken in einem Land für Banken eines anderen Landes geradestehen sollen. Dabei verkennen sie, dass es zweifelsfrei noch viel unfairer ist, wenn Steuerzahler für international operierende Banken einspringen müssen.

Die Bankenunion will ja gerade eine Antwort darauf geben, dass Banken europäisch leben, aber national sterben. Die Auswirkungen von Bankenpleiten und Finanzkrisen machen an Staatsgrenzen jedenfalls nicht halt. Ein stabiles europäisches Bankensystem ist im Interesse eines jeden Landes, vor allem auch im Interesse Deutschlands.

Das System der Bankenunion kann durchaus mit einer Autoversicherung verglichen werden. Alle Autofahrer sind dazu verpflichtet, in eine Versicherung einzuzahlen, damit bei einem Unfall die Kosten des Schadenfalls gedeckt sind. Natürlich gibt es unterschiedliche Autofahrertypen - Raser, Drängler, Schleicher - deshalb richtet sich der individuelle Versicherungsbeitrag auch nach dem individuellen Risikoprofil. Sichere Autofahrer zahlen genauso wie solide Banken niedrigere Beiträge. Ich bin mir sicher, dass die berechtigen Anliegen der Sparkassen und Genossenschaftsbanken gehört, ihre berechtigten Interessen berücksichtigt und wir eine Lösung für sie finden werden.

Die toxische Verbindung von Bank- und Staatsschulden muss gestoppt werden

Die Bankenunion soll also europäische Steuerzahler schützen, indem die toxische Verbindung zwischen Bankschulden und Staatsschulden durch die Einrichtung eines bankenfinanzierten Versicherungsfonds gesprengt wird. Das ist auch im Interesse der deutschen Steuerzahler.

Die erste Säule, die Einheitliche Bankenaufsicht, die 128 Großbanken direkt überwacht, konnte unlängst bereits ihren ersten Geburtstag feiern. Die zweite Säule, der Einheitliche Bankenabwicklungsmechanismus soll ab dem 1. Januar 2016 einsatzfähig sein. Wenn alles nach Plan verläuft, dann werden ab 2024 in dem Bankenabwicklungsfonds 55 Milliarden Euro verfügbar sein. Dieser "Versicherungspool" soll dann sicherstellen, dass keine öffentlichen Gelder für die Stabilisierung maroder Banken eingesetzt werden müssen. Zur dritten Säule, der Einheitlichen Einlagensicherung, wird die Kommission demnächst einen Vorschlag vorlegen. Sie wäre der Königsweg, um die Ziele der Bankenunion zu erreichen: Steuerzahler schützen und Banken von öffentlichen Finanzen entkoppeln.

Doch bevor wir weitere Integrationsschritte machen, müssen wir erst einmal dafür sorgen, dass alle auch alles wie vereinbart umsetzen. Momentan hapert es an einigen Stellen noch gewaltig: Bislang haben nur 16 Staaten die Richtlinie zur Bankenabwicklung umgesetzt, und nur elf Staaten die Richtlinie zu den Einlagensicherungssystemen. Deshalb ist es auch richtig, dass die EU-Kommission in zwei Stufen vorgehen will. Zunächst soll es bei nationalen Systemen bleiben und erst wenn die notwendigen nationalen Voraussetzungen erfüllt sind, greift das europäische System. Bis dahin aber, haben wir noch viel Zeit und vor allem Arbeit vor uns.

Ob Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Klimawandel oder auch der internationale Terrorismus: Wir Europäer müssen uns einen Ruck geben, enger zusammenrücken und angesichts globaler Herausforderungen und Gefahren gemeinsam agieren: Gemeinsam sind wir stärker. Wenn wir das Durchwurschteln und Auf-Sicht-Fahren beenden und endlich wieder solide, nachhaltige und auf Langfristigkeit angelegte Politik betreiben.

Martin Schulz , 59, ist Präsident des Europäischen Parlaments.

© SZ vom 24.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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