Rücksichtsloser Städtebau:Feldzug in den Wohlstand

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Die Modernisierung Chinas wird nirgendwo so radikal umgesetzt wie im zentralchinesischen Zhengzhou. Wer sich wehrt, wird mit kriminellen Methoden vertrieben.

Von Marcel Grzanna, Zhengzhou

Die Fahrt über den vierten Autobahnring von Zhengzhou in Zentralchina gleicht einem Ausflug ins Kriegsgebiet. Wo kürzlich noch Häuser standen, säumen jetzt Trümmerfelder kilometerlang die Straße. Doch was an Verwüstung durch Bombenangriffe erinnert, ist in Wahrheit das Resultat behördlich organisierter Abrissarbeiten. Die örtlichen Genossen der allein regierenden Kommunistischen Partei haben der Hauptstadt der unterentwickelten Provinz Henan einen Modernisierungsprozess verordnet, der in der gesamten Volksrepublik seinesgleichen sucht.

Schon das alte Zentrum der Neun-Millionen-Metropole hat sich binnen weniger Jahre von einem schmucklosen Moloch in ein glitzerndes Meer von Hochhausfassaden verwandelt. Aber das reichte den Funktionären nicht. Sie planten neue Zentren für Zhengzhou für Millionen Menschen, die in Zukunft vom Land in die Stadt ziehen sollen. Die Generalüberholung ist im vollen Gange. Nur die neuen Bewohner fehlen noch. Viele Häuser sind unbewohnt, Ladenzeilen ohne Mieter und breite Straßen unbefahren.

Szenen aus dem Alltag in Zhengzhou: Praktisch - Eine Unterkunft auf Rädern kann einfach umgeparkt werden. (Foto: Getty)

Noch vor zehn Jahren war Zhengzhou etwa so groß wie München. Heute hat sich die Stadtfläche mehr als verdoppelt. Die Behörden verleibten sich Ackerland und Dörfer im Umland ein und pflastern alles zu mit Bürotürmen und Villenvierteln. Das Tempo der Stadtentwicklung hat aus dem ehemals grünen Zhengzhou einen der schmutzigsten Ballungsräume des Landes gemacht. Hunderte Großbaustellen produzieren seit Jahren so viel Feinstaub, dass an manchen Tagen die Sicht nur wenige Hundert Meter beträgt. Auch können sich viele Ex-Bewohner der abgerissenen Häuser und Dörfer den neuen Wohnraum nicht leisten. Oft reichen Entschädigungszahlungen nicht aus, wenn überhaupt welche fließen. Die Menschen leben zum Teil in Containern oder Zelten, manche seit Jahren.

Die Funktionäre wollen mit anderen Boomregionen mithalten

Doch die Verantwortlichen verfolgen konsequent ihr Ziel. Sie sind getrieben vom Wettbewerb unter chinesischen Großstädten um die markantesten Protzbauten und die größte wirtschaftliche Relevanz in Chinas Feldzug in den Wohlstand. Sie haben es satt, dass anderswo im Reich geringschätzig auf sie heruntergeblickt wird, nur weil die Industrie wegen der schlechten geografischen Lage jahrzehntelang einen großen Bogen um Henan machte. "Die lokalen Funktionäre jagen Erfolgen hinterher, mit der sie ihre Amtszeit schmücken können. Deswegen treiben sie die Neustrukturierung so rasend schnell voran", sagt der Anwalt Zhu Xiaoding, der für die Pekinger Kanzlei Cailiang arbeitet.

Unsicherheit: Man muss damit rechnen, dass das eigene kleine Häuschen bald einem weiteren Hochhaus weichen soll. (Foto: Bloomberg)

Die Kanzlei wirft den örtlichen Behörden vor, im Rahmen der Umsiedlung Gesetze und die Verfassung zu brechen, indem sie die Justiz und die Disziplinarkommission der Partei offiziell in die Planung der Umsiedlung einbeziehe. Außerdem würden sie auf illegale Weise Grundstücke beschlagnahmen, sagen die Anwälte. Anfragen an die Behörden liefen ins Leere.

Tatsache ist, dass die Beamten nicht zimperlich vorgehen bei der Realisierung ihrer Vision. Weigern sich Bewohner, dem Neubau Platz zu machen, kommen die Bagger, manchmal auch bei Nacht, und beginnen mit dem Abriss der Häuser, während die Menschen drinnen noch schlafen. Anderswo pumpten die Abrissmannschaften menschliche Exkremente in die Wohnungen resistenter Bewohner, um diese zu vertreiben. Wieder andere fanden Tierkadaver vor ihren Türen oder wurden nachts stundenlang von vermummten Eindringlingen terrorisiert. Die Polizei hilft nicht. 1579 Beschwerden und Hilferufe gingen laut den Anwälten seit 2013 in Zhengzhou in diesem Zusammenhang bei ihr ein. Nur in zwei Fällen leiteten die Beamten eine Untersuchung ein, besagen Papiere, die der Anwalt vorlegt.

Zu den Klienten gehört Li Donggen. Sie sitzt vor einem Berg an Dokumenten in der Wohnung ihrer Tochter in einem Stadtviertel von Zhengzhou, das vom Abriss bislang verschont wurde. Sie war nur schnell raus zum Essen. Als sie zurückkam, hatten Bagger ihr Häuschen zerstört. Eine Kompensation verweigern die Verantwortlichen. "Die sagen mir, wenn es kein Haus mehr gibt, könnte es auch kein Geld mehr dafür geben", erzählt Li.

Andere haben etwas bekommen. Die Hoffnung auf Entschädigungszahlungen hat sogar einen neuen Geschäftszweig entwickelt. An einer Straßenkreuzung weit entfernt vom Stadtkern stehen Lastwagen, die Sand und Beton anbieten. Die Qualität ist schlecht, aber die Preise niedrig. Hier kaufen Kunden ein, die kurzfristig noch genau dort eine einfache Behausung hochziehen wollen, wo die Behörden bald den Abriss planen. Bei einigen hat sich die Kreativität ausgezahlt, weil die Kompensation, die sie kassierten, höher war als die Baukosten.

Menschenmassen als Logistik-Aufgabe: Noch vor zehn Jahren war Zhengzhou etwa so groß wie München. Heute hat sich die Stadtfläche mehr als verdoppelt. (Foto: Imago)

Die exzessive Expansion der Stadt überschneidet sich mit der Amtszeit von Premierminister Li Keqiang, der seit 2012 Regierungschef ist. Li war bis 2004 sechs Jahre Gouverneur der Provinz und pflegt noch immer beste Kontakte nach Zhengzhou. Mancher Beobachter glaubt, dass sich örtliche Funktionäre sehr sicher fühlen beim kompromisslosen Neubau der Stadt, solange Li dem engsten Kreis des Machtzirkels angehört.

Der heutige Premier pflanzte einst die Wurzel für die wirtschaftlichen Ambitionen in Zhengzhou, indem er Unternehmen mit guten Konditionen in die Provinz lockte. Auch der weltgrößte IT-Zulieferer Foxconn kam. Der Auftragsproduzent wurde in der Vergangenheit von den Behörden mit kostenlosen Arbeitskräften versorgt. Studenten mussten für einige Monate ein unbezahltes Praktikum am Fließband absolvieren. Wer sich beklagte, dem verweigerten die Behörden den Universitätsabschluss.

Kritische Anwälte werden von der Staatssicherheit unter Druck gesetzt

Heute ist Zhengzhou eine von sechs Städten in China, wo ausländische Waren steuergünstig gelagert werden können. Für Onlinehändler wie Alibaba oder JD.com sind das verlockende Standorte. Sie unterhalten dort riesige Logistikzentren, die Wachstum fördern und Arbeitsplätze schaffen. Aber ausgerechnet jene, die seit Jahrzehnten dort leben, profitieren am wenigsten von der radikalen Modernisierung. Den Menschen fehlen ihre jahrelangen Einnahmequellen, seit ihre Äcker zerstört sind, und die Qualifikationen, um bei Alibaba Karriere zu machen.

Die Pekinger Anwälte versuchen seit Jahren, Betroffenen wie Li Donggen in Peking für erlittenes Unrecht Gehör zu verschaffen. Die Kanzlei hat zahlreiche Fälle gesammelt und bei den Behörden in der Hauptstadt eingereicht. Bislang warten sie vergeblich auf eine Reaktion. Stattdessen erhielt Jurist Zhu kurz nach dem Interview einen Anruf von der Staatssicherheit, die ihn warnte, künftig nicht mehr mit ausländischen Medien zu sprechen.

© SZ vom 04.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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