Report:In der Wasserfalle

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Der nordhessische Edersee ist die zweitgrößte Talsperre Deutschlands. Seit einigen Jahren sinkt der Pegel im Sommer bedenklich. Aufgeben kommt für die Anwohner nicht in Frage.

Von Susanne Höll

Wenn die Aseler Brücke auftaucht, wird es kritisch am Edersee. Normalerweise liegt die alte, etwa 60 Meter lange Passage unter Wasser. Aber was ist in diesen Zeiten schon normal am nordhessischen Edersee, der flächenmäßig zweitgrößten Stausperre Deutschlands? Dort, wo eigentlich eine kleine Fähre Touristen über die Fluten schippern sollte, erstreckt sich in diesen heißen Augusttagen ein unwirtliches Schotterfeld. Badespaß? Pustekuchen. Allein ein junger Golden Retriever japst durch schmale Rinnsale. Im Geröll liegen Tretboote, mit denen man an besseren Tagen Ausflüge über den See macht. Der Eisverkäufer am Ufer hat Langeweile.

Matthias Stappert sitzt auf einer Holzbank im Schatten, schaut auf die Brücke, den japsenden Hund und die trockengefallenen Bötchen mit Schwanenköpfen inmitten der Mondlandschaft. In einem Satz beschreibt der Bürgermeister der Gemeinde Vöhl das Dilemma des Sees und seiner Menschen: "Das ist die Folge des Klimawandels und falschen Wassermanagements."

Der Edersee, der sich in den vergangenen 60 Jahren zu einem vergleichsweise preiswerten Ferienziel für Familien und Wassersportfreunde entwickelt hat, trocknet aus. Jedenfalls im Sommer. Und das bringt die Bewohner der Seeorte in Kalamitäten. Für sie ist das Gewässer persönlich eine Herzenssache und wirtschaftlich eine Einnahmequelle. Weniger Wasser im Sommer bedeutet, dass die Saison kürzer wird und der Umsatz sinkt. Stammgäste beschließen, ihre Ferien besser anderswo zu verbringen. Denn wer Ende August hier etwa noch segeln will, könnte schwer enttäuscht werden.

Jahre, ach was, ein Jahrzehnt lang glaubten die Menschen am See, sie würden in Sachen Wasser von den politisch Mächtigen ungerecht behandelt. Schon immer fielen die Pegel im Sommer, kein Wunder. Deshalb war die Talsperre einst überhaupt gebaut worden.

Am Anfang stand nicht der Wunsch, den Fremdenverkehr zu fördern. Das Reservoir, entstanden noch im Kaiserreich, sollte eine angemessene Versorgung der Weser und deutscher Kanalstraßen für den Güterverkehr per Schiff garantieren.

Damals, in der Zeit vor und im Ersten Weltkrieg, verloren fast 1000 Menschen ihre Heimat. Zu tief liegende Dörfer wurden geflutet, Häuser und Kirchen abgebaut und oberhalb des neuen Sees wieder aufgerichtet. In die Erinnerung der alteingesessenen Familien hat sich all dies über Generationen hinweg eingebrannt.

"Die Menschen hier haben einen Preis für den See gezahlt. Wir haben Orte versinken sehen und uns umorientiert", sagt Christine Hoffmann. Die 54 Jahre alte Frau mit den dunklen Haaren ist am See geboren, verließ dann, wie viele andere nordhessische Frauen, in jungen Jahren die vermeintliche Enge der Heimat auf der Suche nach der großen, bunten Welt. Da war die Goldschmiedeausbildung in München, anschließend ein Schmuckdesignstudium, Arbeit in den USA und in Norddeutschland. Dann kehrte sie zurück an den See, der Natur und des Heimwehs wegen. Im Elternhaus auf den Höhen über der Sperre hat sie eine kleine Werkstatt eingerichtet.

Kein Wasser mehr unterm Kiel: Paddelboote im ausgetrockneten Teil des Edersees. (Foto: RALPH ORLOWSKI/REUTERS)

Im Moment ist sie, wenn man so will, eine Profiteurin des Wassermangels. Wider Willen, wie sie sagt. Als der See mal wieder leer war, in den Herbstmonaten 2003, fand sie versteinerte historische Schlackenstücke, aus der Erzverhüttung im Dorf Berich, das seinerzeit im Wasser verschwand. Sie lässt die Bröcklein schleifen, fasst sie ein, für Ohrringe, Ketten oder Anhänger. "Ederseelchen" nennt sie die grau-grün-blau schimmernden Unikate. Hoffmann sagt, sie habe aus der Not am See eine Tugend gemacht. Wie Bürgermeister Stappert beobachtet sie die Entwicklungen an der Sperre mit Argwohn. "Wir haben Glück, wenn der See in der Saison noch sechs Wochen richtig voll ist".

Ortsfremde könnten auf die Idee kommen, die Leute in Vöhl, Edertal und Waldeck hätten ein Luxusproblem, weil gut situierte Segler nicht mehr genügend Wasser unter dem Kiel haben. Unfug. Die Sperre ist kein Ballermann, kein Lido, auch nicht der Starnberger See. Er sei Heimat und Urlaubsziel von Menschen, die keine sonderlich großen Sprünge machen könnten, sagt Hoffmann. Kein Halligalli, kein Getöse, keine Happenings. Hier lebt man von der Natur. Wer Geld verdienen oder ausgeben wolle, müsse sich im Leben anstrengen, sagt die Designerin. Der Edersee ist, wenn man so will, ein Ort des kleinen Glücks.

Es gibt etliche Pensionen und Gästehäuser, mit Ausnahme des Hotels in der alten Burg Waldeck sucht man Luxusressorts hier vergeblich. Stattdessen gibt es Campingplätze auf Wiesen, die auch Heimstatt für Dauercamper sind. Und so mancher hat sich hier den Traum von der eigenen kleinen Ferienhütte erfüllt. Pferdeäpfel auf schmalen Straßen und bunte Wiesen verbreiten den Duft von Sommerfrische. Rundherum breiten sich grüne Wälder aus. Wer jedoch genauer hinschaut, kann auch im Forst erste Anzeichen der Trockenheit erkennen. Hier und da ragen dürre Äste und Baumspitzen heraus.

Der See aber ist der traditionelle Mittelpunkt der Region, die nie nennenswerte Industrie hatte, ländlich geprägt war und ist. Kleingewerbe gibt es, aber nicht sehr viele größere Betriebe. Je mehr Touristen kamen, umso größer wurde in den letzten Jahren der Verdruss über die althergebrachten Ablassregeln.

Jede Welle, die in die Weser abfloss, fehlte am See. Vergangenes Jahr wurde es dramatisch. Nicht nur die alte Aseler Brücke tauchte auf, sondern auch andere Relikte der einst überfluteten Dörfer, darunter die Gräber von Berich, die vor der Evakuierung sicherheitshalber mit Beton übergossen worden waren. Ein gruseliger Anblick, in mehrfacher Sicht. "Edersee-Atlantis" nennen die lokalen Touristikmenschen werbewirksam den Blick auf die historischen Hinterlassenschaften. Auch sie machen, wenn man so will, aus der Not eine Tugend.

Und jedes Jahr ging der Wasserkampf in Nordhessen in eine neue Runde - eine Auseinandersetzung, an der viele Akteure beteiligt sind: Die Leute vom See, die sich ihr Stückchen Eden in Jahrzehnten geschaffen haben, die hessische Landesregierung in Wiesbaden, die sich für die Region stark macht, aber in Sachen Wasserverteilung nicht das Sagen hat. Die Hoheit liegt beim Bundesverkehrsministerium in Berlin, das über die Talsperre und die Wasserstraße Weser herrscht. Und natürlich das Land Niedersachsen mit seinen Wesergemeinden, die ihr ganz eigenes verständliches Interesse an einem funktionierenden Schiffsverkehr auf der Weser haben, für den Tourismus und die Binnenschifffahrt.

In diesem Frühjahr konnten die Anrainergemeinden einen Erfolg verbuchen. Die Wassermenge, die winters wie sommers zugunsten der Weser abgelassen wird, wurde reduziert. Hilft es wirklich? Na ja. Die Aseler Brücke ist doch schon wieder aufgetaucht. Langsam wird es den Leuten am See klar, dass ihre Misere nicht nur der Wasserverteilung, sondern auch dem Klimawandel geschuldet ist. Wo weniger Wasser ankommt, gibt es auch weniger zu verteilen. Erstaunlich ist, dass diese unerfreuliche Erkenntnis nicht etwa Trübsinn bei den Machern in der Region auslöst, sondern neue Ideen und Schwung bringt. Bürgermeister Stappert ist einer, der früh begriff, dass man neben der Talsperre auf Alternativen setzen muss. Wie kaum ein anderer propagiert er über die kommunalen Grenzen hinweg die Schönheit des Nationalparks Kellerwald-Edersee, einem fast 60 Kilometer großen Schutzgebiet mit Buchen-Urwald. Dazu gehört ein anspruchsvolles Wandergelände, dessen Höhen so schöne Namen tragen wie Himmelreich und Traddelkopf. "Willkommen in der Nationalparkgemeinde Vöhl", begrüßt Stappert inzwischen regelmäßig Besucher. Er hat durchgesetzt, dass Vöhl, Edertal und Frankenau höchst offiziell diesen Zusatztitel tragen dürfen.

So etwas nennt man Marketing. Zwar gibt es in Deutschland mehr als ein Dutzend Nationalparks. Doch wenn man den Begriff hört, sieht man im Geiste die Geysire des Yellowstone-Parks in den USA vor sich, eine der ältesten Schutzzonen der Welt. Stappert schaut immer noch auf das traurige Schotterfeld an der Aseler Brücke. Wenn es so weiter gehe, habe seine Gemeinde Vöhl als Erste kein ausreichendes Wasser mehr, meint er. Klar, der See müsse gestützt werden, er sei schließlich immer noch die größte Attraktion. Aber andere Angebote seien nötig. "Wir müssen uns neu aufstellen. Das können Sie, wenn Sie mögen, auch Klimaanpassung nennen."

Einige neue Projekte sind schon auf dem Weg. In Edertal, an der Sperrmauer, soll bald eine weitere Attraktion entstehen. Ein großes Besucherzentrum ist in Planung, dort, wo jetzt ein paar öffentliche Toiletten stehen. Die Landesregierung in Wiesbaden übernimmt den größten Teil der Kosten von mindestens zwei Millionen Euro. Für das Land ist das eine Infrastrukturmaßnahme. Wenn es regnet oder wenn die Dürre den See austrocknet, bietet man Touristen ein Ausflugsziel, verlängert hoffentlich die Saison und sorgt dafür, dass die Geschäfte im strukturschwachen Nordhessen einigermaßen laufen.

Nur noch ein Rinnsaal statt eines Sees. (Foto: Thomas Lohnes/Getty Images)

Für etliche Einwohner ist dieses Zentrum von höchstpersönlicher Bedeutung, ein Mahnmal, sozusagen, für die wechselhafte Geschichte der Sperre, die vielen Familien einen hohen Preis abverlangt hat. Erst die Umsiedelungen und Überflutungen der Dörfer. Dann im Zweiten Weltkrieg der Angriff der britischen Luftwaffe, der in der Nacht zum 17. Mai ein 60 Meter breites Loch in die Sperre riss. Wasserfluten ergossen sich in die Täler, mindestens 29 Menschen kamen in den Fluten um. "Tränen, Bomben, Paradies", lautet der bezeichnende Titel eines Fotobuches von Uli Klein, der am See aufwuchs. Und was ist mit der Dürre? Die sollte vielleicht auch Thema der Ausstellung werden.

Denn wer weiß schon, wie lang das Edersee-Glück noch dauert? Thomas Hennig, Besitzer einer Segelschule in Rehbach, sagt, mit dem Wassermangel stehe viel auf dem Spiel: "Es ist ein regionales Wirtschaftsproblem." Hotels und Gastronomie tun sich schwerer, Saisonkräfte zu finden. Wer will nach Nordhessen kommen, wenn anderswo die Saison viel länger dauert? Hennigs Skatfreund Kalli Draude, Jahrgang 1937, stimmt zu. Er ist bis heute passionierter Segler und betreibt einen Kran, mit dem Boote ins Wasser gesetzt oder herausgeholt werden. Als er an den See kam, in den Fünfzigerjahren, gab es vielleicht vier Dutzend Schiffchen am See. In den güldenen Jahren nach der Jahrtausendwende waren es 2000. Jetzt sinkt die Nachfrage nach Liegeplätzen. Düstere Aussichten also?

Segellehrer Hennig wackelt mit dem Kopf. Vieles hätten die Anrainer in den vergangenen Jahren durch zähen und mühsamen Einsatz für den Verbleib des Wassers im Speicher erreicht. "Doch wenn sich das Klima ändert, müssen wir uns mehr einfallen lassen", rät er. Den Nationalpark als zweites Standbein ausbauen, neue Besuchergruppen anlocken, Best Agers etwa. So nennen Werbeexperten Leute in gesetzterem Alter, die keine finanzielle Not leiden, unternehmungslustig sind und bestenfalls auch reisefreudig. Schon heute sieht man am See betagte Radfahrer, die erstaunlich flink die Serpentinen rund um die Sperre erklimmen. Das E-Bike macht es möglich. Auch müsse man die ganze Hotellerie auf Komfortstandard bringen, sagen die Skatfreunde von Rehbach. Und darauf hoffen, dass sich die Deutschen in Zeiten des Klimawandels darauf besinnen, dass man auch im eigenen Land sehr schöne Ferien verbringen kann.

Die Seepioniere im Edertal sind ziemlich fest entschlossen, dem Wasserblues zu trotzen. Richtig so, findet Professor Dietrich Borchardt. Der Mann ist ein renommierter deutscher Wasserexperte und Leiter der Abteilung Aquatische Ökosystemanalyse am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Magdeburg. In früheren Jahren hat er sich intensiv mit Talsperren und der Lage am Edersee beschäftigt. Borchardt macht den Anrainern Mut: "Der See könnte inmitten des Klimawandels ein Musterbeispiel für Nutzungsänderung und Anpassung werden, jedenfalls dann, wenn sich die Akteure in der Region einig sind, gute Ideen haben und ihrerseits bereit sind, auch für sich in Dürrezeiten Verzicht zu üben."

Tiefergelegte Marina: Segelboote bei Waldeck. (Foto: RALPH ORLOWSKI/REUTERS)

Aus Sicht des Professors wird die Rolle von Talsperren in diesen Wendezeiten noch immer unterschätzt. Zukunft und Nutzung der Sperren müssten dringend neu geordnet werden. Warum, bitte schön, müsse die aus wirtschaftlicher Sicht nicht mehr herausragend bedeutsame Schifffahrt auf der Oberweser noch immer Priorität haben? "Bislang müssen sich die Wassermengen im Stausee den Schiffsgrößen anpassen und nicht umgekehrt. Es gibt immer noch zu viele Denkverbote bei diesem Thema, die man dringend überwinden muss", verlangt Borchardt.

Tatsächlich haben viele Last- und Touristenschiffe auf der Oberweser noch immer einen großen Tiefgang, sind also auf sinkende Pegel nicht eingestellt. Doch die Weser hat seit Jahrzehnten einen mächtigen Fürsprecher, den Bundesverkehrsminister, inzwischen Andreas Scheuer von der CSU. Was kann ein nordhessischer Bürgermeister schon gegen einen solch einflussreichen Ressortchef ausrichten? Wasserexperte Borchardt sagt, die Verhältnisse könnten sich ändern. Ein vom Bundesumweltministerium initiierter nationaler Wasserdialog komme langsam in Gang, der dürfte Gemeinden vor Ort helfen.

Vor Ort am Edersee schwankt man noch zwischen Sorge und Hoffnung. Schmuckdesignerin Hoffmann schließt bei der Frage, wie es denn an der Sperre in 50 Jahren aussieht, ihre Augen und überlegt. Nein, sie wolle nicht schwarzmalen. "Aber wenn es kein radikales Umdenken gibt, ist das Wasser weg und es gibt nur noch Rinnsale", sagt sie. Segellehrer Hennig ist optimistischer. Vielleicht sei die Sperre dann ein Trinkwasserreservoir, an dem man Urlaub und Wassersport machen könne. Und Kalli Draude, der Skatfreund, setzt auf Vernunft, Einsicht und Erschrecken der Menschen: "Ich habe die Hoffnung, dass der Klimawandel uns hier tatsächlich hilft."

© SZ vom 24.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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