Report:Die Welt ist nicht genug

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Der Internet-TV-Anbieter Netflix ist in fast jedem Land der Erde zu sehen, die Nutzerzahlen steigen. Doch nun könnte der Liebling der Stunde Opfer seines eigenen Erfolgs werden.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Erinnert sich noch jemand an das Geräusch eines Modems? Dieses "Biiiiiiiii-Daaaaa-Deng-Deng-Deng-Pfffff-Drrrrrr", das jeder ertragen musste, der sich ins Internet einwählen wollte? War extrem nervig, aber auch verbunden mit der hoffnungsfrohen Erwartung, dass sich einem danach eine völlig neue Welt auftun würde. Die Töne beim Öffnen des Streamingportals Netflix gehen "Dib-didib-da-düdeldüdeldü". Sie malträtieren das Trommelfell ähnlich schlimm, vermitteln aber auch eine ähnlich wohlige Botschaft: Da wird gleich was Einzigartiges passieren.

Netflix hat die Unterhaltungsbranche revolutioniert, weil dort seit Jahren einzigartig Unterhaltsames zu sehen ist.

Zuletzt wurden etwa die Superhelden-Serie "Defenders", das Wrestling-Drama "Glow" und die Dokumentation "Get Me Roger Stone" freigeschaltet. 104 Millionen Menschen in 190 Ländern haben den Streamingdienst mittlerweile abonniert, davon mehr als fünf Millionen in Deutschland. Der Umsatz ist in den vergangenen drei Monaten gegenüber dem Vorjahresquartal um 32 Prozent auf 2,79 Milliarden Dollar gestiegen, der Gewinn liegt bei 66 Millionen Dollar. An der Börse wird das Unternehmen mit knapp 78 Milliarden Dollar bewertet, das ist ein Anstieg um knapp 50 Prozent in diesem Jahr.

Das klingt zunächst einmal nach einer wahnwitzigen Erfolgsgeschichte für diese Firma, die vor exakt 20 Jahren als DVD-Versand gegründet worden ist.

Disruption nennen sie so was im Silicon Valley, wenn jemand eine komplette Industrie erschüttert und einen popkulturellen oder womöglich gar gesellschaftlichen Wandel herbeiführt. Apple hat das mit Smartphones geschafft, Facebook mit sozialen Netzwerken, Tesla mit Elektroautos. Einige Firmen werden durch diese Erschütterungen wachgerüttelt wie etwa derzeit die europäischen Autobauer, andere werden davon überrascht und überrannt wie der finnische Handyhersteller Nokia.

Es kann auch passieren, dass der Disruptor irgendwann selbst erschüttert wird: An das einst so erfolgreiche Internet-Freundschaftsportal Myspace erinnern sich nur noch Menschen, die auch die Modem-Melodie auswendig summen können.

"Netflix gucken", das klang wie "ein gutes Buch lesen"

Netflix bewegt sich zwischen Silicon Valley und Hollywood, neben der Firmenzentrale im nordkalifornischen Los Gatos gibt es seit diesem Jahr ein 14-Stockwerke-Bürogebäude auf dem Sunset Boulevard in Los Angeles. An beiden Orten, in beiden Branchen herrscht die unsentimentale Mentalität, dass am Ende nur der überleben wird, der andauernd Einzigartiges liefert. Wer es sich auf seinen Lorbeeren allzu bequem macht, der hat bald nichts mehr zu essen als diese Lorbeeren und wird verhungern. Netflix-Programmchef Ted Sarandos sagt über den Prachtbau in Hollywood: "So ein Gebäude ist ja auch ein Statement: Wer du bist, woran du glaubst und was du tun möchtest."

Also dann: Wer ist Netflix? Woran glaubt dieses Unternehmen? Was will es?

Es gibt Berichte über immense Schulden und darüber, dass Disney seine wertvollen Inhalte von 2019 an nicht mehr bei Netflix, sondern auf einem eigenen Streamingservice zeigen möchte. Apple hat verkündet, im kommenden Jahr eine Milliarde Dollar in eigene Bewegtbild-Produktionen investieren zu wollen. Das ist der nächste finanzkräftige Konkurrent neben Amazon Prime (Melodie beim Öffnen der App: "Bimm-da-bibibibi") und Hulu ("Huaaa-badrrring-ba-diii") sowie den Pay-TV-Firmen HBO ("Krch-pffff-haaaaaaaa") und Showtime ("Wfff-di-da-da-daaaa"). Und natürlich haben auch Silicon-Valley-Platzhirsche wie Facebook, Twitter, Snap oder Alphabet und traditionelle Fernsehsender wie NBC und CBS den Wandel bemerkt und greifen ebenfalls an.

Der Revolutionär Netflix spürt gerade die Auswirkungen der eigenen Revolution.

Wer vor zwei Jahren die Firmenzentrale in Los Gatos besuchte, der konnte diese Entwicklung vom frechen Revoluzzer im Kulturbetrieb zum weltweit erfolgreichen Disruptor beobachten: Das Unternehmen hatte gerade einige bedeutende Preise für Serien wie den Politikthriller "House of Cards" oder das Gefängnisdrama "Orange is The New Black" gewonnen und galt bereits als eine höher entwickelte Form des Fernsehens: Der Kunde sah nicht mehr nur, was ihm zu einer bestimmten Zeit vorgesetzt wurde. Er wählte aus einer virtuellen Bibliothek qualitativ hochwertige Inhalte. "Netflix gucken", das klang wie "ein gutes Buch lesen".

Sie waren stolz darauf in Los Gatos, dass es ihretwegen Begriffe wie "Immer-und-überall-Fernsehen" (Netflix war bereits auch auf mobilen Geräten verfügbar) und Binge-Watching (möglichst viele Folgen einer Serie ohne Pause ansehen) gab - und auch darauf, dass "Netflix gucken und chillen" das bedeutete, was zuvor mit der augenzwinkernden Einladung zum Kaffeetrinken in der eigenen Wohnung gemeint gewesen war.

Nur bei einem Thema, da wurden die Netflix-Mitarbeiter so gesprächig wie ein Modem. Der dreiste Reporter aus Deutschland wollte wissen, wie das Unternehmen mit Misserfolgen und Enttäuschungen umgehen würde. Es hatte ihn beeindruckt, dass im traditionellen US-Fernsehen mehr als 70 Prozent aller fiktiven Serien vor dem Beginn einer zweiten Staffel abgesetzt werden. Es war eine harmlose Frage, ob ein Streamingportal das ebenso unsentimental handhabt wie die TV-Industrie. Die Mitarbeiter schauten damals, als hätte jemand nach dem Weltuntergang gefragt.

"Sense 8 hatte nicht genug Zuschauer, um ein so gewaltiges Projekt finanziell zu stemmen."

So etwas wie Einschaltquoten gibt es bei Netflix nicht, sie sind ja auch völlig egal. Es gibt keine Werbetreibenden, die interessieren könnte, wie viele Leute eine Serie und damit auch die Filme während der Unterbrechungen gucken. Netflix veröffentlicht bis heute keine Daten zu einzelnen Produktionen - was allein zählt, ist die Gesamtzahl der weltweiten Abonnenten.

Wer Serien wie "Stranger Things" oder "13 Reasons Why" sehen möchte, der muss ein Netflix-Abo abschließen und soll es möglichst nie wieder kündigen. Das ist die Währung, auf die es ankommt.

Ein hochrangiger Mitarbeiter von Netflix antwortete damals auf diese Frage selbstbewusst, dass es keine Misserfolge oder Enttäuschungen bei Netflix gebe. Nachfrage, ob das Unternehmen denn messbare Erwartungen an einzelne Produktionen habe. Antwort: Ja. Ob diese Erwartungen jemals nicht erfüllt worden seien. Antwort: Nein. Damit war die nervige Fragerei zu diesem Thema beendet.

Es ging sogleich wieder um fröhlichere Dinge wie die bahnbrechende und äußerst aufwendige "Sense 8", über die Produzent J. Michael Straczynki genau das sagte, was später Tina Fey über "Unbreakable Kimmy Schmidt" und Wynona Ryder über "Stranger Things" sagen sollten: "So was ist nur bei Netflix möglich." Nun, "Sense 8" ist abgesetzt worden, nach der zweiten Staffel. Es wird nach Fan-Protesten zwar einen Zwei-Stunden-Abschlussfilm geben, Programmchef Sarandos sagt jedoch: "Die Zuschauer waren leidenschaftlich dabei, es waren aber nicht genug, um ein derart gewaltiges Projekt finanziell zu stemmen."

Es gibt also doch enttäuschte Erwartungen bei Netflix - und wer zuletzt die Adam-Sandler-Klamotte "Sandy Wexler", die Brad-Pitt-Satire "War Machine" oder die Will-Arnett-Serie "Flaked" gesehen hat, der weiß, dass auf Netflix nicht nur qualitativ hochwertige Inhalte zu sehen sind. Es gibt dort auch ganz schon viel Biiiiiiiii-Daaaaa-Deng-Deng-Deng-Pfffff-Drrrrrr.

"Einige Sachen funktionieren, andere nicht", sagt Sarandos. Wer von seinen Zuschauern Geld für Inhalte verlangt, der muss einzigartige Inhalte liefern; allein in diesem Jahr sind Netflix-Sendungen insgesamt 91 Mal für den wichtigsten TV-Preis der Welt nominiert, den Emmy. Nur: Wer "Game of Thrones" sehen möchte, der braucht ein Abonnement bei HBO, das mit 111 Emmy-Nominierungen noch deutlich vor Netflix liegt. "The Man in the High Castle" läuft bei Amazon Prime (16 Nominierungen), "The Handmaid's Tale" bei Hulu (18).

Netflix ist längst nicht mehr der einzige Anbieter qualitativ hochwertiger Inhalte, aufwendige Projekte sind auch woanders möglich. Die Disruption der Unterhaltungsbranche ist nicht vorbei, sie hat gerade erst begonnen - mit immensen Herausforderungen für das Unternehmen, das die Revolution ausgelöst hat.

Netflix möchte seine exklusiven Inhalte bestenfalls nicht mehr lizenzieren. "House of Cards" etwa wird von Media Rights Capital produziert, "Orange Is the New Black" von Lionsgate. Der Grund: Die Rechte müssen dabei oftmals für jedes Land neu verhandelt werden, was kostspielig werden kann. Das Unternehmen will möglichst selbst produzieren und dann in sämtlichen Netflix-Ländern selbst vertreiben. Das sind freilich riskante Investitionen, Gründer Reed Hastings sagte kürzlich: "Wir müssen ziemlich viel Geld auslegen, um dann über viele Jahre hinweg Umsatz zu erwirtschaften. Die Ironie dabei: Je schneller wir wachsen und je mehr eigene Inhalte wir besitzen, desto mehr werden wir investieren. Ein negativer Cashflow ist in gewisser Weise ein Zeichen gewaltigen Erfolgs."

"Können wir den Deutschen ein Angebot liefern, dass sie bereit sind, dafür zu zahlen?"

"Content ist King", heißt es immer wieder, der Inhalt ist König. Es ist dann aber schon auch bedeutsam, in welchem Schloss dieser König residiert, also investiert Netflix kräftig in eigene Inhalte und international bekannte Stars: Martin Scorsese dreht für mehr als hundert Millionen Dollar den Mafia-Thriller "The Irishman" mit Robert De Niro und Al Pacino, der in zwei Jahren erscheinen und möglichst ein Kandidat für wichtige Filmpreise wie etwa den Oscar sein soll. Netflix produziert den Thriller "Bird Box" mit Sandra Bullock und den Fantasy-Actionfilm "Bright" mit Will Smith - und hat kürzlich die legendäre Serien-Erfinderin Shonda Rhimes ("How to Get Away With Murder", "Grey's Anatomy") vom Disney-Sender ABC angeworben. In diesem Jahr will Netflix sechs Milliarden Dollar für eigene Inhalte ausgeben, 2018 gar sieben Milliarden.

Nicht alle Beobachter sind davon überzeugt, dass die immensen Ausgaben ein Zeichen gewaltigen Erfolgs sind.

Netflix vermeldete bei den jüngsten Quartalszahlen Gesamtschulden in Höhe von 4,8 Milliarden Dollar, dazu gibt es langfristige Verpflichtungen für künftige Inhalte in Höhe von 15,7 Milliarden Dollar. "Das Wachstum wird sich irgendwann zwangsläufig verlangsamen", prognostiziert Mike Vorhaus von der Analysefirma Magid Advisors. Der US-Markt gilt als nahezu gesättigt, der Einstieg in China trotz einiger Kooperationen als überaus knifflig.

In Deutschland liegt Netflix einer Studie des Forschungsunternehmens Goldmedia zufolge mit einem Marktanteil von 20 Prozent hinter dem Angebot von Amazon, das auf 47 Prozent kommt. "Ich würde es in Deutschland nicht als Zweikampf zwischen Amazon und uns bezeichnen", sagt Hastings: "Die Frage lautet eher: Können wir den Deutschen ein derart großartiges Angebot liefern, dass sie bereit sind, dafür zu zahlen?" Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov hat kurz vor Ostern ergeben, dass fast jeder dritte Deutsche inzwischen Streamingdienste nutzt.

Die entscheidende Frage auf dem Streamingmarkt lautet: Werden künftig noch mehr Deutsche bereit sein, neben dem Rundfunkbeitrag noch Geld auszugeben für Bundesliga im Bezahlfernsehen und mehrere Streamingportale?

"In dieser Branche kann niemand gewiss sein, für immer der Platzhirsch zu sein."

Sie glauben fest an Erfolg durch Wachstum bei Netflix und Koexistenz mit anderen Anbietern, vor allem glauben sie daran, dass dieses Wachstum weitergeht, solange sie einen technisch herausragenden Service bieten und hochwertige Inhalte liefern - oder wenigstens solche, wegen denen Kunden Abonnements abschließen, es muss ja nicht immer alles gleich Hochkultur sein. Vorhaus hält diese Strategie für gefährlich: "Sie brauchen schon ein bisschen Glück, dass sie in diesen finanziellen Verpflichtungen nicht ertrinken. In dieser Branche kann niemand gewiss sein, für immer der Platzhirsch zu sein."

Programmchef Sarandos versichert: "Wir geben kein Geld aus, das wir nicht haben." Er sagt aber auch: "Je erfolgreicher wir sind, desto nervöser werde ich, dass traditionelle Fernsehsender bereit sind, ihre Sachen an uns zu lizenzieren." Das Unternehmen verspürt also nicht nur Druck im Wettrüsten mit den Konkurrenten, die im Falle von Apple, Amazon oder Alphabet über andere Einkommensströme verfügen als nur durch Einkünfte über Abonnements. Die linearen TV-Sender etablieren Streamingangebote und vertreiben ihre Inhalte selbst. Sie kooperieren mit Silicon-Valley-Unternehmen, wie etwa Eurosport mit Amazon: Für 4,99 Euro monatlich können die Kunden 45 Bundesliga-Partien, die Olympischen Winterspiele in Pyeongchang, Tennisturniere wie die nun beginnenden US Open und Motorsport sehen.

Es ist ja noch nicht einmal geklärt, welches Geschäftsmodell sich am Ende durchsetzen wird: Streamingportale mit Abonnements, Pay-TV-Kanäle, der Einzelverkauf von Inhalten wie etwa einem Sportereignis oder einer Serie - oder ein anderes Geschäftsmodell, das heute noch als schwer realisierbar gilt wie zum Beispiel das Aufsetzen einer Virtual-Reality-Brille statt eines Stadionbesuchs. Für die komplette Unterhaltungsbranche geht es derzeit darum, in diesem Medienwandel, den die Kunden durch ihr verändertes Konsumverhalten vorantreiben, nicht abgehängt zu werden. Für die Zuschauer ist das freilich eine gute Nachricht, wenn sich finanzstarke Unternehmen ein Wettrüsten um qualitativ hochwertige Inhalte liefern.

Für diese Inhalte bezahlt der Kunde - aber hat sich dann wirklich so viel verändert, wenn der Zuschauer am Ende nun in die neuen Geschäftsmodelle das investiert, was er zuvor für Kino-Eintrittskarten, DVD-Leihgebühr oder Kabelfernsehen ausgegeben hat? Ist das nicht ein ähnlicher Inhalt auf anderen Plattformen? Der gleiche König in anderen Burgen?

Netflix hat die Im-Internet-ist-alles-gratis-Mentalität beendet und gezeigt, dass die Leute bezahlen - wenn sie etwas bekommen, was sie haben möchten.

Das Abonnement-Modell hat sich mittlerweile auch in anderen Sparten der Unterhaltungsbrache etabliert. Wer den Sunset Boulevard in Los Angeles hinunterfährt, am seit 2006 geschlossenen Plattenladen von Tower Records vorbei und am legendären Radio-und-TV-Gebäude CBS Columbia Square, wo nun Wohnungen und Büros gebaut werden. Wer das Kino Cinerama Dome sieht, das nur deshalb nicht abgerissen wird, weil es unter Denkmalschutz steht.

Wer weiter zum neuen Prachtbau von Netflix fährt, der spürt, dass dieses Unternehmen nicht nur die Unterhaltungsbranche erschüttert und einige Firmen zerstört hat. Netflix hat bewiesen: Wer hochwertige Inhalte liefert, kann damit Geld verdienen. Das ist nun wahrlich keine revolutionäre Erkenntnis, und doch ist es eine der bedeutsamsten Botschaften seit "Biiiiiiiii-Daaaaa-Deng-Deng-Deng-Pfffff-Drrrrrr".

© SZ vom 26.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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