Reformen:Aufstand gegen Macron

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Am Gare de l’Est in Paris protestierten Bahn-Angestellte. Im ganzen Land streikten an diesem Donnerstag Menschen und provozierten im Zug- und Flugverkehr und vielen öffentlichen Einrichtungen Ausfälle. (Foto: Francois Mori/AP)

In Frankreich wächst die Wut über die Reformpolitik des jungen Präsidenten. Bahner und Staatsdiener wollen eine breite Protestbewegung organisieren. Jetzt wird sich zeigen, wie veränderungsfähig das Land ist.

Von Leo Klimm und Nadia Pantel, Paris

Jede gute Demo führt in Paris früher oder später zur Place de la République und zur riesigen Statue der Marianne. Dass es heute eine besonders gute Demo werden soll, haben sie der Marianne blau auf weiß auf ihren Marmorsockel gesprüht: "Mai 68. Sie gedenken. Wir fangen wieder an." Sie, das sind die Politiker. Wir, das müssten - analog zu Mai 1968 - Gewerkschaften und Arbeitnehmer und Studenten und Künstler sein. Sie, das sind an diesem Märzdonnerstag 50 Jahre später die Mitstreiter von Reformpräsident Emmanuel Macron. Wir, das sind in erster Linie Mitarbeiter der Staatsbahn SNCF.

Die meisten von ihnen sind heute in Warnweste gekommen. "Macron entgleisen" hat einer auf ein Stück Pappe geschrieben. Zwischen den Bahnern stehen Jugendliche und trinken Dosenbier. Zwei Frauen haben sich einen weißen Mundschutz um den Hals gehängt. Vorbereitet auf den gemäßigten Straßenkampf.

Die Pariser Demo ist die größte, aber nur eine von etwa 180 Kundgebungen. Insgesamt gingen nach Angaben des französischen Innenministeriums am Donnerstag mehr als 300 000 Menschen landesweit auf die Straße, davon nach Medienschätzungen knapp 50 000 alleine in Paris. Im öffentlichen Dienst hatten die Gewerkschaften zum Generalstreik aufgerufen, unter anderem legen die Fluglotsen die Arbeit nieder. Schulen, Krankenhäuser und die Müllabfuhr sind ebenfalls betroffen. Im Bahnverkehr kommt es am Donnerstag durch einen Ausstand der Lokführer zu massiven Störungen. Es soll erst der Anfang einer langen Machtprobe mit Macron sein, bei der beide Seiten auf die Zermürbung der jeweils anderen setzen.

Unter einer der Platanen am Rande des Platzes steht Karim Ben-Saïd mit seinen Kollegen. Sie arbeiten im SNCF-Stellwerk am Stadtrand von Paris. Warum sie heute hier sind? "Es ist doch nicht unsere Schuld, dass die Bahn verschuldet ist. Aber statt vernünftig zu wirtschaften, streicht man uns angebliche Privilegien." Ben-Saïd arbeitet im Schichtdienst, mal frühmorgens, mal nachts, mal am Wochenende. "Finden Sie das privilegiert?", fragt er.

Dieser allererste Tag ist für die Demonstranten genau wie für Macron bereits ein wichtiger Test. Ein Indikator, wie stark die Blockademacht der Reformverweigerer ist. Im Umkehrschluss heißt das: In den nächsten Wochen erweist sich, wie veränderungsfähig das Land ist. Und ob linksradikale Gewerkschaften wie die CGT hier womöglich ihr letztes Gefecht schlagen.

Denn es ist ein Grundsatzkonflikt um die wirtschaftspolitische Ausrichtung Frankreichs, der da ausgetragen wird. Eine Konfrontation der Dogmen um die Neugewichtung von Staat und Markt in der Wirtschaft. Hier die Befürworter des traditionell starken Staates und ihre politischen Unterstützer von links bis ganz rechts. Dort die Anhänger von Macrons moderat liberaler Politik, die auf - etwas - weniger Staat, mehr Jobs in privaten Firmen und mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt abzielt. Der Präsident legt dabei ein hohes Tempo vor. Vom Umbau der Arbeitslosenversicherung bis zur Bahn-Reform stößt er alles auf einmal an. "Das wird weder morgen aufhören noch nächsten Monat noch in drei Monaten", hat Macron seine Gegner gewarnt.

Der Unmut gärt an vielen Stellen, aus vielen Gründen und in verschiedenen Branchen - nicht nur bei SNCF und im Staatsdienst. Ob sich daraus politische Wucht entwickeln kann, dürfte davon abhängen, ob sich der Unmut in einer breiten Bewegung sammelt, wie es die CGT anstrebt. Es ist ja kein Zufall, dass die Gewerkschaften just den symbolträchtigen Jahrestag der ersten 68er-Massenproteste gewählt haben.

Allerdings kann anno 2018 kaum ein so mächtiger Aufruhr entstehen wie 1968. Das glaubt wohl auch bei der CGT niemand. Aber auf ein Szenario wie 1995 hoffen sie schon: Damals schon wollte der konservative Premierminister Alain Juppé Bahnern und Beamten Zugeständnisse abringen. Während des obligatorischen Streiks schlug sich die Bevölkerung auf die Seite der Protestierer. Nach drei Wochen Totalblockade gab Juppé auf.

Heute zeigen sich Macron und sein Regierungschef Édouard Philippe sehr gelassen. Die Zeiten haben sich geändert, meinen sie, und sie wollen die gute Konjunkturlage für ihre Reformen nutzen. Den Umfragen zufolge können sie sich ihrer Sache allerdings nicht ganz sicher sein: Die Bahn-Reform befürworten zwar fast 70 Prozent der Franzosen. Zugleich hat eine knappe Mehrheit Verständnis für die Forderungen der Staatsbediensteten insgesamt. Und ein Drittel unterstützt Arbeitsausstände.

Das ermutigt etwa die SNCF-Beschäftigten, die nach Ostern an 36 Tagen streiken wollen, um Standesvorteile wie eine Vorzugsrente zu verteidigen und die Öffnung der Schiene für den Wettbewerb zu vereiteln. "Angesichts dieser autoritären Regierung müssen wir einen intensiven und langen Konflikt durchhalten können", erklären die Bahn-Gewerkschaften. Sie hoffen, dass sich der Ärger von Millionen Bahnkunden mit der Zeit gegen die Regierung wendet - wie 1995.

Der Protest im öffentlichen Dienst hat dagegen andere Ursachen. Er richtet sich gegen den vagen Plan, 120 000 von 5,5 Millionen Stellen beim Staat abzubauen. Oder gegen leistungsorientierte Bezüge, etwa für Lehrer. Auch die Beschäftigten von Air France streiken - für höhere Löhne. Und bei mehreren Handelskonzernen, darunter der Supermarktkette Carrefour, kämpfen die Mitarbeiter schlicht um ihre Jobs. Die Firmen nutzen eine Lockerung des Arbeitsrechts, die Macron durchgesetzt hat, um Tausende Stellen zu streichen.

Die Rentner waren die treuesten Wähler des Staatsoberhaupts - die Zustimmung schwindet rapide

Vielleicht wird dem Präsidenten gar nicht der schrille Protest auf der Straße am gefährlichsten, sondern der stille Groll in Wohnzimmern und Altersheimen. Denn auch Frankreichs Rentner sind verärgert über den jungen Staatschef: Die Erhöhung einer Sozialsteuer wird bei ihnen - anders als bei Erwerbstätigen - nicht durch eine Senkung der Abgaben ausgeglichen. Die Rentner waren Macrons treueste Wähler, als er 2017 Präsident wurde.

Nun sinken hier seine Zustimmungswerte rapide. Bei der Demo in Paris schimpft eine ältere Dame vor sich hin. An ihrer Jacke heftet ein "Finger weg von unserer Rente"-Sticker. Sie schimpft aber nicht über Macron. Sie schimpft über die Krawallmacher, die jetzt die Kundgebung stören: An der zersplitterten Scheibe eines Bankautomaten zersplittert auch die Demo ein wenig. Warum sie sich so aufrege, fragt ein Mann im Wollmantel. "Die schlagen hier alles kaputt, diese Vermummten! Ich hab ihnen noch eins mit dem Stock übergezogen, aber denen ist alles egal!" Der Mann macht große Augen: "Sie haben Demonstranten verprügelt?" Die Dame gerät kurz ins Stocken. "Finden Sie das hier normal?" Ja, sagt der Mann, eine Bank mit Steinen zu bewerfen, das fände er durchaus normal. Es wird ein heißer Frühling in Frankreich.

© SZ vom 23.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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