qualifiziert & arbeitslos (II):"Bin ich wirklich die, die zu sein ich behaupte?"

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Bestens ausgebildet - und doch arbeitslos. Wer sich auf Jobsuche begibt, stellt fest, dass sich einen Schattenwelt auftut ... und viele an der Arbeitslosigkeit mitverdienen wollen.

Barbara Ehrenreich

Im Folgenden geben wir einen Auszug aus dem neu erschienenen Buch "qualifiziert & arbeitslos" wieder. Barbara Ehrenreich, die bereits in dem Bestseller "Arbeit poor" im Selbstversuch erkundet hatte, ob und wie man von Billigjobs leben kann, beleuchtet in ihrem neuen Buch die arbeitslose Mittelschicht.

Barbara Ehrenreich, hat Chemie, Physik und Molekular- biologie studiert und zählt heute zu den bekanntesten Publizistinnen Amerikas. In ihrem neuen Selbstversuch begibt sie sich als erfahrene "PR-Frau" auf Stellensuche. (Foto: Foto: Sigrid Estrada)

Ausgerüstet mit einer neuen Identität und einem Lebenslauf voller Qualifikationsnachweise versucht sie fast ein Jahr lang, in den USA Arbeit zu finden. Hier lesen Sie ihre ersten Schritte, tief hinein in eine Welt ganz eigener Art.

Also geht die Suche nach einem Karrierecoach, der mich in die Geheimnisse der Stellensuche einweiht, weiter. Ich lasse mich auf der Website CoachLink registrieren, was mir drei E-Mails mit Coachingangeboten und einen Anruf beschert.

Ich entscheide mich für Kimberly, die Anruferin, laut ihrer Website "Beraterin für Stellensuchende und Outplacement, Trainerin und Schriftstellerin ", und vereinbare mit ihr - um Initiative zu zeigen - eine halbstündige Telefonsitzung pro Woche für 400 Dollar im Monat, das heißt 200 Dollar die Stunde.

Meine "Hausaufgabe" bis zu unserer ersten Sitzung besteht darin, über meinen idealen Job zu "fantasieren". Wie sähe in diesem idealen Job mein Tag aus? Das ist gar nicht so schlecht.

Jeder sollte sich einmal Zeit für utopische Gedanken nehmen, und welcher Moment eignete sich dafür besser als der, in dem man nichts anderes zu tun hat?

Also fantasiere ich über eine kleine bis mittlere Firma mit Büros in einer bewaldeten Gegend, wobei man von meinem Arbeitsplatz in ein Tal und auf eine sanfte Hügellandschaft blickt.

Morgens und nachmittags fährt ein Espressowagen herum; es gibt einen Gymnastikraum, in den wir uns mindestens einmal pro Tag zurückziehen sollen, und die Kantine bietet Nouvelle Cuisine zu erschwinglichen Preisen. Nichts davon geht jedoch in meine Aufzeichnungen ein.

Sie kreisen ausschließlich um eine Balance zwischen intensiver Kollegialität in meinem "Team" und Zeiten kreativer Abgeschiedenheit in meinem Büro, das natürlich eine Tür hat - eine Zelle in einem Großraumbüro ist nichts für mich. In meiner Fantasie bin ich die Leiterin meines Teams, das ich kollegial und "fördernd" führe.

Ich gehe auf in meiner Arbeit, worin immer diese bestehen mag, und bleibe häufig bis spät abends in der Firma. Bei unserer ersten Sitzung ist Kimberly "begeistert" von meinen Bewerbungsunterlagen und meiner Fantasie und findet es generell großartig, mit mir zu arbeiten.

Für meine Hausaufgabe bekomme ich gute Noten: "Sie wissen sehr genau, was Sie wollen! Viele Klienten brauchen Monate, bis sie so weit sind. Ich denke, bei Ihnen wird es schnell gehen." Ihre Begeisterung geht mir schon jetzt auf die Nerven.

Ich bin irritiert und stelle sie mir mit platinblonder Kurzhaarfrisur vor und in einem Sweatshirt mit dem Aufdruck eines Urlaubsorts, wie sie vor ihrer Ranch steht und auf einen mit Rentieren und Gartenzwergen garnierten Rasen blickt.

Sie selbst sieht sich so: "Ich habe schon einige Branding-Prozesse geleitet, und das Markenzeichen, das Sie bei mir bekommen, ist 'ausgesprochen optimistisch', 'höchst leidenschaftlich' und 'absolut improvisationsfähig'". Ich soll mich genauso betrachten - als "Marke" oder zumindest als Produkt. "Was machen Sie im PR-Bereich?"

Ich hole kurz Luft, da ich etwas verunsichert bin. Vielleicht ist dies ein Test, ob ich wirklich die bin, die zu sein ich behaupte. Aber wie sich herausstellt, ist dies die Testfrage, der die schwindelerregend aufschlussreiche Antwort folgt: "Sie verkaufen etwas, und jetzt werden Sie sich selbst verkaufen!"

qualifiziert & arbeitslos - Eine Irrfahrt durch die Bewerbungswüste Aus dem Englischen von G. Gockel und S. Schuhmacher Verlag Antje Kunstmann, 2006, 256 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 3-88897-436-4 (Foto: N/A)

Ich blicke auf meine Trainingshose und meine nackten Füße hinunter, die Kimberly natürlich nicht sehen kann, und murmle etwas über mangelndes Selbstvertrauen, den engen Stellenmarkt und den offensichtlichen Makel meines Alters.

Dieser letztere Mangel ruft ein kräftiges: "Machen Sie sich bewusst, wie negativ Sie sich selbst darstellen. Werden Sie zu der Person, die Sie in Wirklichkeit sind: jemand, der die Dinge in die Hand nimmt." Nun kommt der theoretische Teil. Sie fordert mich auf, mir zwei sich überschneidende Kreise vorzustellen.

Der eine Kreis bin ich, der andere ist "die Arbeitswelt", und die Schnittmenge von beiden ist "die ideale Stellung für Sie". "", meint Kimberly. "Sie müssen das Glas als halb voll betrachten, nicht als halb leer."

Ich zeichne die sich überlappenden Kreise, während sie spricht, dann zeichne ich noch einmal welche, die sich fast vollständig decken, womit sich meine Aussichten, eine Anstellung zu bekommen, beträchtlich erhöhen.

Unsere halbe Stunde nähert sich dem Ende, stelle ich erleichtert fest. Sie meint, ich benötigte drei Monate Coaching, mit anderen Worten, sie verlangt 1200 Dollar. Es ist viel Arbeit für mich, erklärt sie, weil sie "ko-aktives Coaching" betreibt, das "sehr stark auf Zusammenarbeit beruht". "Ich möchte, dass Sie mich als Ihren besten Coach konzipieren."

Vermutlich hat sie vergessen, dass sie nicht nur bereits konzipiert ist, sondern auch "ein Markenzeichen" hat.

Wenn ich sie "konzipieren" sollte, würde ich ihr einen starken Serotoninantagonisten verabreichen, um diese nassforsche Begeisterung zu dämpfen.

Vielleicht finde ich einmal eine taktvolle Möglichkeit, ihr nahe zu legen, sie möge sich ein wenig mäßigen. Nach der Sitzung bin ich wie ausgelaugt, während sie aufgekratzter ist denn je: "Wir werden zusammen tanzen!", lautet ihr Versprechen am Ende.

Ich habe das Gefühl, dass die Sache mit Morton noch nicht erledigt ist.

Zumindest sollte ich den Test machen, damit er seine 60 Dollar bekommt; vielleicht begleiche ich damit die Stunde, die ich bereits mit ihm verbracht habe.

Der WEPSS-Test besteht aus 200 Fragen, jeweils in Form eines Wortes oder einer Phrase, die ich auf einer Skala von 1 bis 5 bewerten soll, je nachdem, wie sehr sie auf mich zutreffen, zum Beispiel: trocken, genussfreudig, Stärke, Friedenstifter und rachsüchtig.

Ich setze mich an den Esstisch in der Erwartung, den Test in höchstens zehn Minuten hinter mich gebracht zu haben, aber er ist nicht so einfach, wie es den Anschein hat.

Bin ich schwierig? Von wessen Standpunkt aus betrachtet? Was ist mit gutaussehend? Zweifellos kommt es darauf an,wie viel Mühe man darauf verwendet hat. Oder was unterscheidet mich von anderen - wie kann man das überhaupt von sich sagen?

Die meisten Begriffe sind Adjektive wie kritisch, aber es gibt auch etliche Substantive wie Fantasie und sogar vereinzelt Verben, zum Beispiel vorgehen gegen etwas. Kann ich mich als jemand bezeichnen, der fast nie, gelegentlich oder fast immer gegen etwas vorgeht? Bin ich manchmal, nie oder immer toll oder unkompliziert?

Selbst dort, wo die Syntax meinen Sachverstand als Schriftstellerin - oder, wie ich inzwischen sagen müsste, als "Kommunikationsexpertin" - nicht beleidigt, liegen die Antworten keineswegs auf der Hand.

Zum Beispiel harmonisch: manchmal, aber das hängt davon ab, mit wem oder was man harmoniert. Konflikte vermeiden? Wenn möglich, aber es gibt Zeiten, da suche ich geradezu einen guten, handfesten Streit und genieße ihn. Und was ist mit stark oder glücklich?

Wie ich feststelle, bin ich nicht der Mensch, der, nun ja, jemals sagt, ich "bin nicht der Mensch, der..." Allein schon der Begriff der Persönlichkeit, zu deren Kern wir hier vorstoßen wollen, scheint auf mich kaum anwendbar, möglicherweise auf die wenigsten.

Das Ich ist ein weiterer heikler Begriff: Wenn ich dieses "Ich" einer genaueren Prüfung unterziehe, ist es nicht viel mehr als ein Konglomerat wechselnder Neigungen, Gewohnheiten, Erinnerungen und Vorlieben, die in jede Richtung weisen können - Bedürftigkeit oder Unabhängigkeit etwa,Mut oder Feigheit.

Die beste Strategie, so mein Schluss, besteht wohl darin, jedes Zögern und alle Bedenken über Bord zu werfen, nicht hundertprozentig korrekt sein zu wollen und die Antworten zu geben, die mir spontan zutreffend erscheinen - oder die meiste Bewunderung einbringen.

Bei diszipliniert, hohe Ideale, unabhängig und prinzipientreu kreuze ich "fast immer" an, während ich faul, schroff, zögern und kühl absolut von mir weise.

Eine Woche später, nachdem Morton die Zeit gefunden hat, meine Persönlichkeit einzustufen, treffen wir uns bei ihm zu Hause, um die Ergebnisse durchzusprechen.

Er wohnt in einem bescheidenen Eigenheim im Ranchhausstil in einem Viertel, das ich nicht kenne. Eingerichtet ist seine Wohnung im Stil der katholischen Mittelklasse, circa 1970 - Drucke von ländlichen Szenen aus dem 19. Jahrhundert an den Wänden, ein Teddybär auf einem Schaukelstuhl in Kindergröße, eine Madonna über dem Vertiko.

Mit anderen Worten, völlig normal - zumindest bis wir vor dem Tisch im Esszimmer stehen, auf dem einen Meter große Puppen aufgetürmt sind: eine Vogelscheuche, ein Zinnmann, ein Löwe und - was für ein Film läuft hier? - ein Plastik-Elvis.

Ich habe mir vorgenommen, mit meiner Kritik an dem Test einzusteigen, denn wenn ich nach der Besprechung der Ergebnisse damit anfange, denkt er womöglich, ich wolle damit nur von der Kritik an mir ablenken, die sich aus seiner Analyse ergeben hat.

Wie um alles in der Welt, frage ich ihn, soll ich sagen ob Marketing (einer der Begriffe aus dem Test) auf mich zutrifft? Es handelt sich um ein Substantiv, verflixt, und während ich vielleicht "gut im Marketing" bin, bin ich nicht einmal in meinen kühnsten Fantasien "Marketing".

Ich sage ihm, dass es für eine solche Schlampigkeit keine Entschuldigung gibt und mir bewusst ist, dass ich, indem ich das sage, etwas über meine Persönlichkeit preisgebe: Ich bin streng und unversöhnlich.

(Teil III folgt ...)

© Was bisher geschah ... Barbara Alexander alias Ehrenreich hat sich einen Coach gesucht. Er, Morton, soll sie auf ihrem Weg in die Arbeitswelt begleiten. Das macht er auch - und Alexander soll im Rahmen der Persönlichkeitstests die merkwürdigsten Fragen beantworten. Doch es hilft nicht so recht: "Ich hatte Morton bereits mitgeteilt, nach was für einer Stelle ich Ausschau halte, aber offenbar in einer Sprache, die nicht in seine komplizierte persönliche Metaphysik passt ..." - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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