Private Überschuldung:Plastiktüten voller Rechnungen

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Die stagnierende Konjunktur sowie die hohe Arbeitslosigkeit haben fast drei Millionen Haushalte in Deutschland in eine prekäre Lage gebracht.

Von Simone Boehringer

Einige Münchner Realschüler haben seit Anfang des Jahres ein besonders heikles Thema auf dem Stundenplan: Sie sollen lernen, wie man Schulden vermeidet.

Vier Wochen lang müssen die Neuntklässler im Fach Wirtschafts- und Rechtslehre Haushaltspläne schreiben. An einem Projekttag werden die Einnahme- und Ausgabe-Rechnungen dann mit Experten der Stadtsparkasse München besprochen.

Banker klären über Sinn und Arten von Krediten auf, ein Jurist und ein Schuldnerberater erläutern, welche Gefahren durch eine Überschuldung drohen und welche Auswege es gibt.

Die erste Erkenntnis vieler Schüler - "aus eigener Tasche könnte ich mir meinen Lebensstandard ja bei weitem nicht leisten" lässt die Brisanz des Themas erahnen.

Im Westen nur Großbritannien und USA schlechter

Die Statistik spricht Bände: Fast drei von knapp 39 Millionen Privathaushalten in Deutschland sind nach Analysen der Schutzgemeinschaft für allgemeine Kreditsicherung (Schufa) überschuldet, können also nach Auflösung aller Ersparnisse aus dem Einkommen ihre Zahlungsverpflichtungen nicht mehr erfüllen. Vor 15 Jahren waren erst 1,2 Millionen Haushalte in einer solch prekären Situation.

Im internationalen Vergleich liegt die vermeintlich reiche Bundesrepublik heute ganz weit vorne. "Von den westlichen Ländern stehen nachweislich nur die Vereinigten Staaten und Großbritannien schlechter da," sagt Dieter Korczak, Mitglied im Expertengremium, das für die Bundesregierung den Armuts- und Reichtumsbericht erstellt.

Mangels vergleichbarer Statistiken beruft sich Korczak dabei auf die Definition von Armut der OECD, in der die überschuldeten Personen miteinbezogen sind. "Jeder, der überschuldet ist, ist arm, aber nicht jeder Arme ist überschuldet", so Korczak, auf dessen Institut für Grundlagen- und Programmforschung (GP-Forschungsgruppe) die meisten Zahlenwerke zur Verschuldung in Deutschland basieren.

Die Beträge, ab denen viele Bürger keinen Ausweg mehr sehen, variieren regional sehr stark. Stehen westdeutsche Überschuldete nach den Analysen Korczaks im Schnitt mit 50.000 Euro in der Kreide, können Ostdeutschen oft schon 10.000 bis 20.000 Euro das Genick brechen. Hauptgründe für diesen großen Unterschied: Die durchschnittlich viel höhere Arbeitslosenquote in den Neuen Bundesländern.

Mit am schlimmsten ist die Situation in Mecklenburg-Vorpommern, wo fast jeder fünfte Einwohner ohne Job dasteht und viele andere nach Angaben der Landesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung (LAGSB) zu sittenwidrigen Stundenlöhnen unter fünf Euro arbeiten.

"Arbeit zu haben, heißt hier nicht immer auch Lohn zu erhalten", erklärt Cornelia Zorn, Vorsitzende der LAGSB in Mecklenburg-Vorpommern. "Neben den Arbeitslosen geraten auch immer mehr Leute in die Schuldenspirale, weil sie zu wenig verdienen oder ihre Löhne gar nicht oder verspätet ausbezahlt bekommen."

Die knapp 90 Schuldnerberater, die es landesweit gibt, können sich vor Anfragen kaum mehr retten. "Die Leute kommen mit Plastiktüten voller Mahnungen und Rechnungen und hoffen, dass wir sie da rausholen".

Neben der Arbeitslosigkeit und dauerhaftem Niedrigeinkommen gehören Familientrennungen und Scheidungen sowie die allgemeine Unerfahrenheit vieler Verbraucher in Finanz- und Konsumgeschäften zu den Hauptgründen für die Überschuldung.

Diplom-Psychologe Georg Sieber, der für den Schuldenkompass der Schufa das Finanzwissen der Verbraucher erforscht hat, stellte fest, dass "15 Prozent der Kreditnehmer über sehr geringes Zahlungswissen verfügen, also einen Kredit mit einer Einnahme gleichsetzen, ohne sich Gedanken über die Verpflichtung zur Rückzahlung zu machen".

Erst mit dem Eingang von Mahnschreiben wachse das Bewusstsein. Doch weil es einem peinlich ist, Schulden zu haben, igelten sich viele Menschen dann ein, statt ihr Problem aktiv anzugehen. "Kommt es zur Überschuldung, besteht oft die Hälfte der Verpflichtungen aus Zinsen und Mahngebühren", sagt Sieber.

Gleich mehrere Kredite

Eine große Rolle spielt nach Ansicht von Experten allerdings auch das Geschäftsgebaren von Banken, Handel und Industrie. "Viele Unternehmen wollen die Kunden am besten ein Leben lang an sich binden und das erreichen sie am besten durch lange Kreditbeziehungen", sagt Werner Sanio, Vorstandsmitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft der Schuldnerberater in Deutschland.

Armutsexperte Korczak moniert insbesondere das Vorgehen einiger Banken. Manche Kreditinstitute böten "ohne große Prüfung fünf bis zehntausend Euro Sofortkredit an. Gleichzeitig suggerieren sie in ihren Werbeslogans oft problemlose Wunscherfüllung." Laut Korczak haben drei von fünf überschuldeten Haushalten Kredite bei Banken.

Insgesamt habe jeder vierte Haushalt einen oder mehrere Konsumentenkredite aufgenommen, die Durchschnittsschuld der betroffenen Haushalte liege bei 23.500 Euro.

"Wenn die Hausbank einem keinen Kredit mehr gibt oder gar schon eine Umschuldung vorschlägt, sollten beim Kunden alle Alarmglocken schrillen", sagt Werner Sanio von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Schuldnerberater, "aber die meisten Verbraucher kommen leider erst zu uns, wenn die Schuldenfalle schon zugeschnappt ist".

Kontopfändungen sowie Strom- und Wassersperren durch die örtlichen Energieversorger nennt Cornelia Zorn als häufigste Auslöser für den ersten Besuch bei der Schuldenberatung.

Nicht selten habe die Bank dann bereits das Girokonto gekündigt.Je nachdem wie tief der Schuldensumpf ist, brauchen die Schuldnerberater ein halbes bis mehrere Jahre, um mit den Betroffenen den Weg zurück zu finanzieller Freiheit zu schaffen.

© SZ vom 14.02.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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