Porzellan:Goldgrube des Stils

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Die Zeitläufte und Managementfehler hatten die italienische Porzellanmanufaktur Richard Ginori in den Ruin getrieben - nun lebt sie mithilfe von Gucci wieder auf.

Von Ulrike Sauer, Sesto Fiorentino

Gabri Terrafino zuzuschauen, ist eine Freude. Mit einem schmalen Spachtel löst sie Krümel aus einem Tonklumpen und modelliert die geschmeidige Masse flink zu Blütenblättern, die sie um ein Köpfchen anordnet. Wie im Zeitraffer entstehen auf ihrer Arbeitsplatte winzige Margeriten. Sie sollen eine 29 Zentimeter hohe Handskulptur schmücken, die der Designer Gio Ponti in den Dreißigerjahren entworfen hat. Bis 2018 verstaubte die "Geblümte Hand" im Archiv der Porzellanmanufaktur Richard Ginori. "Jetzt sind wir mit der Hand wieder da", sagt Terrafino. Und findet das wundervoll.

Vor sechs Jahren war in der Fabrik vor den Toren von Florenz der Ofen ausgegangen. Die beiden Brenner des toskanischen Traditionsunternehmens waren erloschen, die Pinsel der Kunstmaler eingetrocknet. Der Porzellanhersteller hatte am 7. Januar 2013 Insolvenz angemeldet. Mit drei Kollegen hielt Terrafino nur die Belieferung der Filiale in Japan aufrecht. "Die Fabrik war leer, es herrschte gespenstische Stille", sagt sie.

Terrafino, die seit 1988 bei Richard Ginori beschäftigt ist, hat einen großen Teil ihres Lebens im weißen Kittel mit dem blauen Firmenlogo verbracht. Der Markenname Richard Ginori 1735 prangt da unter einer stilisierten Krone. Dann aber war das glorreiche Label, das Italiens Adel und Bürgertum 278 Jahre lang stilprägend mit Tellern, Tassen und Suppenterrinen ausgestattet hat, beim Konkursrichter in Florenz gelandet. Nach häufigen Besitzerwechseln hatte Ginori zuletzt 39 Millionen Euro Verlust gemacht. Bei nur 44 Millionen Euro Umsatz. In der ersten Verkaufsrunde gab niemand eine Offerte für den schrottreifen "Ferrari des Porzellans" ab.

"Mit diesem Unternehmen Geld zu verdienen ist schwierig", sagt der Chef

Die Erlösung kam vier Monate später. Am 22. April 2013 tauchte ein Retter auf. Das Florentiner Modehaus Gucci bot 13 Millionen Euro. Die Belegschaft ließ vor Freude die Fabriksirenen heulen. Von 305 Beschäftigten wurden immerhin 230 übernommen.

Die Zeiten, in denen ganze Services gekauft wurden, sind vorbei. Der Traditionshersteller Richard Ginori setzt deshalb auf teure Einzelstücke wie die aus der Serie "Oriente Italiano". (Foto: Richard Ginori)

Ein Happy End? Die Krise von Richard Ginori ist längst nicht überwunden. "Mit diesem Unternehmen Geld zu verdienen, ist schwierig", sagt Giovanni Giunchedi, der die Porzellanmarke seit 2016 führt. Gucci aber ging es um etwas anderes. Dem Lederwarenspezialisten lag daran, ein kulturelles Erbe zu bewahren und eine einzigartige Tradition am Leben zu halten, sagt der Ginori-Chef. Die Übernahme fügt sich nahtlos in die Gucci-Strategie ein. Man bemüht sich, die toskanischen Wurzeln zu vertiefen und die Kontrolle über das regionale Produktionssystem zu stärken. Das Know-how der handwerklichen Herstellungskette zu schützen und zu erneuern, ist ein vitales Interesse der expandierenden Luxusmarke. Wie eine Spinne spannt Gucci, vor fast 100 Jahren als Ledermanufaktur gegründet, sein Netz über mehr als 2000 Zulieferer rund um Florenz. Sich qualifizierte Nachwuchskräfte zu sichern, ist in Italien zur Herausforderung aller Luxuslabel geworden.

In Sesto Fiorentino hatten sie doppeltes Glück im Unglück. Bei Gucci arbeitet 2013 Alessandro Michele. Der Assistent der damaligen Design-Chefin Frida Giannini steht auf Porzellan. Er wird 2014 Kreativ-Direktor bei Richard Ginori, bevor er die Nachfolge der geschassten Giannini antritt und mit einer revolutionären Kollektion im Januar 2015 eine sagenhafte, weltumspannende Gucci-Mania auslöst. Seither wächst das Unternehmen, das von der Pariser Luxusholding Kering kontrolliert wird, jährlich um 40 Prozent. 2018 stieg der Umsatz auf 8,3 Milliarden Euro. Das ist drei Mal so viel wie beim Mailänder Rivalen Prada. Vor vier Jahren lag man noch gleichauf. Micheles überbordender Gucci-Look inspiriert längst die gesamte Modebranche.

Giovanni Giunchedi, er ist Chef der Firma Richard Ginori. (Foto: Richard Ginori)

2013 aber kümmerte sich der langhaarige Hippie um die Revitalisierung der ramponierten Porzellanmarke. Er nahm sich das Archiv vor, überarbeitete die Geschirrkollektionen und modernisierte das Erbe. Traditionsbewusst hielt der Römer an den alten Formen fest, frischte aber das Dekor gründlich auf.

Beim Gang durch die Manufaktur begegnet man seinen Schöpfungen auf Schritt und Tritt. "Michele war der Wendepunkt", sagt Giunchedi. Weil er bei null anfing, hinterließ er tiefe Spuren. Zu seinem Vermächtnis gehört das von ihm geformte, zehnköpfige Design-Team. Im Showroom greift der Ginori-Chef den Bestseller "Oriente Italiano" aus dem Regal. Goldrand, Nelkenmuster, klassische Form, nichts Aufregendes. Auf der Möbelmesse in Shanghai aber sei die Kollektion wie verrückt fotografiert worden. Ihr Clou: Micheles Einfall, die Teller in zehn verschiedenen Pastellfarben herzustellen. So können sich die Kunden aus 10 000 möglichen Kombinationen ihre ganz persönliche Sammlung zusammenstellen. "Kein Mensch legt sich heute noch ein Tafelservice mit 82 Teilen zu", sagt Giunchedi. Aber junge Leute kauften sich zwei Teller, und suchten sich ein Jahr später zwei weitere dazu aus. So bescheiden sind gehobene Geschirrhersteller geworden.

Sind kaufkräftige Millennials bald verrückt nach dem "Weißen Gold"?

Den Niedergang der europäischen Porzellanbranche hatten zwei Faktoren ausgelöst: die Abwanderung der Produktion nach Asien und der Untergang des westlichen Lebensmodells. Familien am gedeckten Tisch, Kochen am eigenen Herd, Hochzeiten, Aussteuer, all das war einmal. "Diese Welt ist verschwunden", sagt Giunchedi. Wer vor der Heirat zusammenlebt, kauft seine Tassen bei Ikea. Für ein gutes Service ist in den Wohnungen ohnehin selten Platz. Das sächsische Staatsunternehmen Meissen, 25 Jahre vor Ginori gegründet, kämpft mit den gleichen Nöten.

In Sesto kamen haarsträubende Fehltritte hinzu. Europas älteste private Porzellanmanufaktur wurde in eine Tellerfabrik umgewandelt. Statt auf Kunsthandwerk setzte man aufs Massengeschäft. Irgendwann nahm Ginori sogar Kloschüsseln ins Sortiment, erzählt Paolo Cavallo, der die Gipsformen für den Guss der flüssigen Porzellanmasse anfertigt. Er erlebte, wie das Unternehmen nacheinander acht Standorte schloss. Zudem war Richard Ginori in die Hände von Finanzhaien und Immobilienspekulanten gefallen, die sich die Firma in rascher Folge zuspielten. Sogar der eng mit dem Vatikan und der Mafia verbandelte Michele Sindona trieb sein Unwesen mit dem kultivierten Markenunternehmen.

Ginori-Mitarbeiter beim Modellieren: Damit Fähigkeiten wie diese nicht verlorengehen, investierte Gucci in Ginori. (Foto: Richard Ginori)

Seit 2016 wird Richard Ginori direkt vom Gucci-Mutterkonzern Kering kontrolliert. 80 Millionen Euro flossen bisher in die Renaissance des Porzellanlabels. Die Manufaktur hat nun eine Holding im Rücken, zu der Modeunternehmen wie Yves Saint Laurent, Stella McCartney, Balenciaga, Brioni und Pomellato gehören. Nach dem Neustart stellte man 40 junge Leute ein. Die Produktion wurde auf Vordermann gebracht. Neue Produkte, die Kreativität mit dem Respekt vor der Markengeschichte verbinden, kamen auf den Markt.

Dennoch blieb vieles in der Schwebe. Erst im vergangenen August gelang es Ginori, in den Besitz des Fabrikgeländes zu kommen. Der Umsatz verharrt bei 14 Millionen Euro. 2022 will man endlich aus den roten Zahlen sein. Giunchedi sieht die Zukunft in der Personalisierung des Angebots und in der Konzentration auf zeitlose Einzelstücke. Er katapultierte das verjüngte Label in den Onlinehandel und erhöht mit coolen Auftritten die Aufmerksamkeit für die Marke. Im Visier hat er die ausgabenfreudige Millennial-Generation.

Bei Gucci gelang Alessandro Michele etwas, womit niemand gerechnet hat: Er zauberte aus der luxuriösen Traditionsmarke mit dem Doppel-G ein aufregendes Label für junge Leute. 62 Prozent seines Umsatzes holt sich Gucci heute bei den Millennials rund um den Globus. Und dies, ohne Zugeständnisse an den Massengeschmack zu machen oder die Preise zu senken. Kann das auch bei Richard Ginori gelingen? Sind kaufkräftige Mittzwanziger oder Mittdreißiger bald verrückt nach dem "Weißen Gold"? Porzellan passe nicht zu schnelllebigen Modetrends und Provokationen, sagt Giunchedi, der zuvor bei den Kering-Marken Bottega Veneta und Sergio Rossi war. "Aber Michele hat gelehrt, Mut zu Innovationen zu haben und dieser Mut steckt in unserer DNS", sagt er.

1923 hatte der junge Mailänder Architekt Gio Ponti die künstlerische Leitung von Richard Ginori übernommen. Es war ein bahnbrechender Karrierestart. Ponti schlug eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen handwerklicher Tradition und industrieller Serienproduktion. Er gilt als erster italienischer Designer überhaupt und hinterließ nach zehn Jahren bei Ginori eine wahre Goldgrube des Stils.

Dass der Maestro und sein Werk nun wiederentdeckt werden, ist ein weiterer Glücksfall für die Marke. Die Geblümte Hand kehrt für 5750 Euro auf den Markt zurück - gerade rechtzeitig.

© SZ vom 06.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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