Ostdeutschland:Die Wessis kommen

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Woche für Woche bringen die Ferien nun neue Urlauber an Mecklenburg-Vorpommerns Küste - doch mancher Hotelier stöhnt, weil ihm das Geld fehlt.

Von Arne Boecker

Matthias Ogilvie hat verlernt, wie der Sommer funktioniert. Tags am Strand dösen, abends zum Fischrestaurant schlendern, um schließlich weinselig ins Hotelbett zu plumpsen, nein, der Mann weiß gar nicht mehr, wie das geht.

14 Sommer am Stück hat er jetzt gearbeitet, gejubelt und geflucht. Zum Durchschnaufen setzt er sich höchstens mal auf die Veranda des Hotels, das er in Lohme auf Rügen leitet. Im Westen biegt sich kilometerlanger Sandstrand wie eine Sichel hin zum Kap Arkona; im Osten versteckt sich der Königsstuhl mit seinem berühmten Kreidefelsen hinter einer Landzunge.

Am Donnerstag ist Nordrhein-Westfalen in die Sommerferien gegangen. Am Wochenende wird eine Auto-Armada aus Kennzeichen wie K, BI, MK oder DO den Nordosten erobern; seit Jahren stellt das Bundesland die größte Gästegruppe.

Im bundesweiten Vergleich hat Mecklenburg-Vorpommern den Küstenrivalen Schleswig-Holstein klar ausgestochen. Im vergangenen Jahr löste man erstmals Bayern als beliebtestes Reiseziel ab.

Wettlauf mit dem Markt

Mecklenburg-Vorpommerns Wirtschaft leidet unter Schwäche und Schwund, aber im Tourismus verzeichnet das Land einen Boom. Ogilvie zählt mit seinem Hotel zu den Gewinnern; gleichzeitig zeigt sein Beispiel, dass das Auf an Schwung zu verlieren droht.

Hoch über der Ostsee krallt sich sein "Panorama Silencehotel" in die Klippe; 217 Holzstufen winden sich runter zum Hafen. "Hier bekäme man heute keinen Bau mehr genehmigt", lacht Ogilvie und lugt von der Terrasse 60 Meter in die Tiefe.

An diesem Abend offeriert die Speisekarte im Panorama Silencehotel unter anderem ein "Sauté von Wolfsbarsch, Meeräsche und Lachsforelle". "Ich habe 1991 sofort losgelegt", erzählt Matthias Ogilvie. "Musste schließlich Geld verdienen für den Umbau." Mecklenburg-Vorpommern, das blutjunge Bundesland, lief mit Neugiertouristen voll.

Schon 1992 knackte Ogilvie die Umsatzmillion. "Die Politik streute Fördermittel, um die wegbrechenden Jobs zu ersetzen, und die Banken winkten mit Krediten", sagt Ogilvie, "obendrauf gab's die Sonderabschreibungen."

Nur eine Idee zur Weiterentwicklung der Sonnenschein-Branche, die gab es nicht. Auf das Beherbergungsgewerbe stürzten sich verdiente Aktivisten/Ost und Möchtegernmanager/West. Einige wählten Standorte aus, in die sich bis heute kein Fremder verirrt.

Im Tourismus zählt die Norddeutsche Landesbank den Raum Mecklenburg-Vorpommern zu den "Regionen mit der größten Dynamik". Vor allem die Ostsee mit ihren familienfreundlich plätschernden Wellen hat es zum beliebtesten Ferienland aufsteigen lassen. An der 1700 Kilometer langen Küstenlinie reihen sich Badeorte wie an der Perlenkette.

Dazu kommen die Nationalparks und mehr als 2000 Binnenseen, echte Alleinstellungsmerkmale im Kampf um die Urlaubsetats. Das fast völlige Fehlen von Industrie, unter dem die Volkswirtschaft im Nordosten arg leidet, wird hier zum Segen. Die Zahl der Übernachtungen in Betrieben mit mindestens zehn Betten ist zwischen 1992 und 2003 von 6,7 Millionen auf 22 Millionen hochgeschnellt.

"Von Januar bis Dezember zählen Mecklenburg und Vorpommern heute viermal mehr Besucher, als das Bundesland Einwohner hat", sagt Bernd Fischer, Geschäftsführer des Tourismusverbandes. "Wir erwirtschaften 15 Prozent des Bruttosozialprodukts."

Nicht in Zahlen zu fassen ist der Imagegewinn für eine Gegend, mit der viele nur Arbeitslosigkeit und Rechtsextremismus assoziieren. Auch das Panorama Silencehotel Lohme ist herangewachsen. Angefangen hatte Matthias Ogilvie mit 50 Betten, heute sind es 91, verteilt auf vier Häuser. "Wir mussten nicht nur die Quantität steigern, sondern auch die Qualität verbessern", sagt Ogilvie.

Irgendwann begannen die Gäste höhere Ansprüche zu stellen. Die vergangenen Jahre seien ein ständiger Wettlauf mit dem Markt gewesen, erklärt der Hotelier. "Das Problem war, diesen Wettlauf zu finanzieren."

Matthias Ogilvie schlägt die Gardine zurück. Neben dem Haupthaus haben zwei graue Gebäude die DDR überlebt. Luftige Zimmer will der Hotelier hier anlegen, mit Balkons zur See. Er will auch eine Sauna einbauen, von wegen "Wellness" und so.

Monatelang hat Ogilvie vergeblich um die Finanzierung gefeilscht. "In den Wendejahren haben sich die Banker von der Euphorie anstecken lassen", sagt Matthias Ogilvie, "jetzt hocken sie in tiefer Depression."

Ein "selbstzerstörerischer Attentismus" habe da um sich gegriffen, klagt er. Wie wollen die denn Geld verdienen, überlegt er laut, wenn sie vor jedem Geschäft zurückschrecken? Matthias Ogilvies persönliche Bilanz im Aufbau Ost: 800 000 Euro Schulden.

Oft genug musste er mit Gewinnen Investitionen finanzieren, anstatt Kredite zurückzuzahlen. "Die Kreditwirtschaft hat Ostdeutschland eigentlich aufgegeben", sagt er.

Wirtschaftlich gesehen ist das Panorama Silencehotel zwar nicht so wetterfühlig wie ein Campingplatz, dennoch lastet der kühle, nasse Sommer schwer auf dem Betrieb.

Die Bank lässt frisches Geld für die beiden Häuser nur fließen, wenn das Stammhaus ein ähnlich gutes Ergebnis erwirtschaftet wie 2003. Doch draußen blitzt und donnert es wieder. "Ich muss nicht um das Überleben kämpfen", sagt Ogilvie. "Aber es genügt mir nun mal nicht, das Erreichte zu halten. Ich will mein Hotel entwickeln."

Angela Preuß, Touristik-Expertin in der Schweriner Industrie- und Handelskammer, kennt das Problem: "Weil der Tourismus noch so jung ist, sind unsere Einrichtungen eigentlich hochmodern. Aber nach zehn Jahren werden viele Kredite fällig, so dass Investitionen aufgeschoben werden."

Stillstand droht. Mecklenburg-Vorpommerns Wirtschaftsminister Otto Ebnet (SPD) warnt deshalb unermüdlich, man müsse künftige Erfolge klug planen. "Wir sollten uns auf eine ältere, vielschichtigere Gesellschaft einstellen, die durch individuelle Bedürfnisse geprägt wird", heißt es im Landestourismuskonzept 2010.

Will heißen: Ein sauberes Bett und zwei Sorten Marmelade zum Frühstück reichen heute nicht mehr aus. Der Nordosten setzt auf die Gesundheitswirtschaft, vulgo: "Wellness". Unter dem Motto "MV tut gut" hat das Wirtschaftsministerium eine aufwändige Werbekampagne gestartet. Nur leider ist das Land selbst chronisch klamm - die Banken wird es kaum ersetzen können.

© SZ vom 24.07.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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