Ölförderung:Im Rausch der Tiefe

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Tausend Meter unter der Meeresoberfläche hat ein neuer Ölboom begonnen, selbst dort lohnt sich die Förderung - solange Verbraucher die höheren Preise bezahlen.

Andreas Oldag

Kirk Thomas lässt die Triebwerke des Sikorsky-Hubschraubers aufheulen. Die Maschine erhebt sich schwerfällig in die Luft. Windböen zerren an dem Helikopter. Captain Kirk schmunzelt. Das macht er gerne, wenn er auf seinen Namensvetter aus der Fernsehserie "Raumschiff Enterprise" angesprochen wird. "Wir sind mindestens so sicher wie die Enterprise. Ich musste noch niemals auf Flügen zu Bohrinseln notlanden", sagt der erfahrene Pilot. Unter dem Bauch des Hubschraubers schimmern die Sümpfe des Mississippi-Deltas. Nach wenigen Minuten verschwindet die Küste nahe der amerikanischen Stadt New Orleans im Dunst. Das braun-brackige Wasser geht in eine azurblaue Farbe des Golfs von Mexiko über.

Immer tiefer, immer teurer: Seit die Ölpreise auf Rekordniveau liegen, lohnt sich die Förderung auch in mehreren tausend Metern Tiefe. (Foto: Foto: dpa)

Am Horizont taucht die gigantische Stahlkonstruktion der Shell-Ölplattform "Ursa" auf. Sie schwimmt auf ihren vier zylinderförmigen Säulen wie ein fettes Monster im Meer. Bis zu einem Meter dicke Stahlseile halten die künstliche Insel am Meeresboden fest. Mehr als 63.000 Tonnen wiegt der Koloss, der vom Grund bis zur Spitze des Bohrturms 1300 Meter misst. Während der Ölpreis an den Rohstoffmärkten von Rekord zu Rekord eilt, arbeitet "Ursa" auf Hochtouren.

Wie ein rohes Ei

Die Plattform, weltweit eine der größten ihrer Art, ist ein Symbol für die Zukunft der globalen Ölindustrie. Unternehmen wie Shell bohren immer tiefer nach dem schwarzen Gold, das die Volkswirtschaften der Industriestaaten am Laufen hält. Mehr als tausend Meter unter der Meeresoberfläche hat ein neuer Ölrausch begonnen.

Captain Kirk kippt den Hubschrauber in eine steile Linkskurve und setzt zur Landung an. Vorsichtig wie ein rohes Ei bugsiert er das Fluggerät zentimetergenau auf einen tellerförmigen Landeplatz hoch über dem Meer. Tief unten kräuseln sich in der Sonne glitzernde Wellen. Ein Schwarm Barrakudas durchschneidet elegant das Wasser. Doch ein Naturidyll ist dies hier nicht. Auf der Plattform herrscht ein ohrenbetäubender Lärm der Pumpen und Bohranlagen.

"Ich wollte immer in die Ölindustrie"

Der Koloss im Golf von Mexiko zittert wie ein wilder Stier. Das Ungetüm brüllt und stampft in seinen stählernen Eingeweiden. Hier ist die Welt der harten Öl-Männer. Es ist das Image von muskelbepackten Kerlen, die mit ihren schwieligen Händen schwere Rohre stemmen und in schwindelerregender Höhe Bohrgestänge hieven. Ein menschliches Biotop, das sich ähnlich wie bei den mit Michelin-Sternen ausgezeichneten Restaurant-Küchen der weiblichen Emanzipation bislang beharrlich verweigert.

"Alles ein Vorurteil", lacht Mitchel Camp. "In unserer Kantine arbeiten durchaus Frauen'', sagt der technische Leiter von "Ursa". Der untersetzte Mann mit Schnauzbart spricht den typisch breiten Akzent der amerikanischen Südstaaten. Seit 23 Jahren arbeitet er in der Ölindustrie. Er hat angefangen als Arbeiter, hat Bohrmeißel gesäubert, Pipelines verlegt und Farbe von rostigen Stahlkonstruktionen geklopft. "Ich wollte immer in die Ölindustrie. Auch mein Vater war schon in der Branche", erzählt der 47-Jährige.

"Ölboom sichert Arbeitsplätze"

Jetzt sitzt er hinter einem grauen Schreibtisch in einem fensterlosen Raum im Wohn- und Bürotrakt der Ölplattform. Ein speckiges Kunstleder-Sofa steht in der Ecke. Im Regal stapeln sich ein paar Baseball-Kappen. Auf einem Monitor kann Camp alle sechs fußballfeldgroßen Decks der Plattform einsehen - vom kirchturmhohen Bohr-Rigg bis hin zu den dröhnenden Separationsanlagen, die Öl von Erdgas trennen. Prüfend blickt Camp in ein marmeladenglasgroßes Gefäß, in das eine schwarze Pampe schwappt. Ihr entströmt ein stechender Geruch. Es ist eine Ölprobe aus einer Tiefe von mehreren tausend Metern. "Das ist Topqualität", sagt der Fachmann. "Ursa" fördert jeden Tag bis zu 150.000 Barrel Öl (1 Barrel = 159 Liter) und elf Millionen Kubikmeter Erdgas.

Etwa 150 Menschen arbeiten auf der Plattform in einem 14-tägigen Schichtbetrieb. Danach gibt es jeweils zwei Wochen frei. Die Ölindustrie ist einer der wichtigsten Arbeitgeber im amerikanischen Süden. Der hohe Ölpreis ist für "Ursa" ein Segen. "Klar, ich muss für mein Auto mehr für Benzin bezahlen. Doch für uns sichert der Ölboom Arbeitsplätze", sagt der Plattform-Chef. "Pumpen, was das Zeug hält", lautet deshalb seine Devise.

Lesen Sie weiter, wie die Männer auf der Bohrinsel über die Ölvorräte der Welt denken - und wie die Börsianer das sehen.

Dabei sah es Ende der neunziger Jahre, als auf "Ursa" die Produktion begann, nicht gerade rosig aus. Der Ölpreis lag damals gerade bei knapp 15 Dollar je Barrel. Die Zweifel waren groß, ob sich die Investitionen in die teuren Förderanlagen jemals rentieren würden. Kritiker sprachen von einem "Toten Meer" im Golf von Mexiko, weil viele Firmen sogar abwanderten. Doch jetzt hat sich das Blatt gewendet. Jedes Fass Öl, das "Ursa" an die Oberfläche pumpt, ist dank der Ölhausse doppelt so teuer wie im vergangenen Jahr. Und das heizt einen neuen Ölrausch im Golf von Mexiko an.

6500 Öl- und Erdgasförderstätten gibt es heute in der Küstenregion - mit insgesamt etwa 60.000 einzelnen Bohrstellen. Der Meeresgrund gleiche einer Höhle von Wühlmäusen, witzeln die Öl-Männer auf "Ursa".

Ausgefeilte Bohrtechnik

Die halbmondförmige Küste zwischen den US-Bundesstaaten Texas, Louisiana, Mississippi, Alabama und Florida ist eine der Hauptschlagadern der amerikanischen Ölversorgung. Bereits in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts rammten Ölpioniere in den moskitoverseuchten Marschen von Louisiana Bohrgestänge in die Erde.

Den Weg durch das Geäst von Kanälen zeigten ihnen Trapper, die sich in der Sumpflandschaft auskannten. In den vierziger Jahren wagten sich die ersten Firmen "offshore" ins Meer hinaus, um das schwarze Gold aus dem Untergrund zu pumpen. Wie lange Spargel ragten die bis zu mehrere hundert Meter langen Stahltürme aus dem Wasser. Es waren primitive und wackelige Anlagen aus der Steinzeit der Ölförderung. In den achtziger Jahren war die Technik reif, schwimmende Bohrinseln zu installieren.

"Wir können heute Öllager anzapfen, die vor wenigen Jahren nicht in den kühnsten Träumen der Ingenieure vorkamen", sagt Shell-Produktionsmanager Jon Unwin. Anfangs seien es 500 Meter, dann 1000 Meter, und heute ließen sich schon Wassertiefen von 2600 Meter überbrücken, erläutert der Experte. Ebenso ausgefeilt ist die Bohrtechnik. So graben sich lenkbare Bohrköpfe sogar horizontal ins Gestein. Sie schlängeln sich in Kurven in Tiefen zwischen 5000 und 9000 Meter. Um den letzten Tropfen aus dem Gestein herauszupressen, injizieren die Techniker pro Tag 130.000 Barrel Wasser in den Meeresboden. Dies soll die wirtschaftliche Ausbeutung der Öllager um etwa zehn Jahre lang verlängern.

Hektische Zeiten

Und wo liegen die Grenzen für diese Tiefbohrungen? Unwin zuckt mit der Schulter. "Wer weiß, welche Technik wir in zwanzig Jahren haben", sagt er. Der bedächtige Ingenieur hält ohnehin nicht viel von den Untergangsszenarien, die das baldige Ende des Ölzeitalters verkünden. "Alle Prognosen, die von dramatisch schwindenden Reserven sprechen, lagen falsch. Die Wahrheit ist: Wir entdecken laufend neue Ölfelder. Die Förderung wird allerdings immer teurer", meint Unwin. Jeder Meter tiefer bedeutet mehr Stahl und mehr Dollar. Alles ist deshalb eine Frage des Preises, den die Verbraucher bereit seien zu zahlen.

2000 Kilometer Luftlinie nordöstlich dreht sich auch für Adam Clifford alles um diese entscheidende Frage. Der Ölhändler steht vor dem tristen Gebäude der New Yorker Rohstoffbörse Nymex. Nervös zieht der 38-Jährige an einer Zigarette. Die Zeiten sind hektisch. Clifford und seine Börsenkollegen drehen am großen Rad der Ölpreisspekulation. Dabei geht es vor allem um sogenannte Öl-Terminkontrakte, also Lieferungen zu einem bestimmten Zeitpunkt und vorher vereinbarten Preis. Es sind für die Spekulanten Wetten auf die Zukunft - Öl-Terminkontrakte machen längst mehr als die Hälfte des täglichen Handelsvolumens an der Nymex-Sparte für Energie aus.

"Wir sorgen für den Ausgleich"

Hier werden täglich Milliardensummen hin- und hergeschoben. Und hier, an der Nymex, entscheidet sich, was Verbraucher in großen Teilen der westlichen Welt für Benzin oder Dieselkraftstoff bezahlen müssen. Lange Zeit schien es für den Ölpreis nur eine Richtung zu geben: nach oben. Nach einem Rekordhoch von 135 Dollar pro Barrel ist der Preis in dieser Woche auf knapp 126 Dollar gesackt. Doch viele Experten rechnen langfristig mit einem weiteren Anstieg. "Es ist der schiere Wahnsinn", sagt Clifford. Auch er ist überzeugt, dass die Preisrally weitergeht. "Es gibt zu viele negative Nachrichten am Markt - Iran-Krise, Anschläge in Nigeria sowie Öldurst in China und Indien", sagt der Ölhändler.

Dass er und seine Kollegen selbst durch Spekulationsgeschäfte die Hausse mit anheizen, streitet Clifford ab. "Wir machen nur unseren Job und sorgen wie jede Börse für einen Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage", sagt er. Immerhin rechnen Experten, dass zehn bis zwanzig Prozent der derzeitigen Ölpreissteigerung auf pure Spekulation zurückzuführen ist.

"Wir werden weiterpunmpen"

Spekulation oder nicht - für "Ursa"-Chef Camp sind es Feinheiten, die ihn weniger interessieren. Seine Sorge gilt vielmehr der Hurrikan-Saison im Golf von Mexiko, die bald beginnt. Wenn die Wirbelstürme über das Meer peitschen, ist für die Ölplattformen höchste Alarmstufe. Im August 2005 hatte der Hurrikan Katrina schwere Verwüstungen in den Ölfeldern angerichtet.

Einige Plattformen hatten sich sogar aus den Verankerungen gerissen und die Pipelines auf dem Meeresuntergrund beschädigt. Die Ölversorgung war für Wochen unterbrochen. "Ursa" kam dabei noch relativ glimpflich davon. Sie hat damals ihre Produktion nur für kurze Zeit stoppen müssen. Seit der Katrina-Katastrophe hat die Crew immer wieder für einen neuen Ernstfall geprobt. "Wir lernen von jedem Hurrikan. Diesmal", sagt Camp, "werden wir weiterpumpen."

© SZ vom 31.5.2008/jkf/jkr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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