Obdachlose:Der lange Weg zurück

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Wer keine Wohnung hat, hat es bei Vermietern und auf dem Arbeitsmarkt schwer. Häufig kommen Betroffene nie aus der Misere. Ein Besuch bei denen, deren einzige Chance Glück ist.

Von Janis Beenen, Dortmund

Das Internetcafé lässt Christian Tiemann hoffen, dass das Leben noch mal besser wird. Wenn er ein bisschen Geld beisammen hat, verbringt er dort viele Stunden. Der 35-Jährige mit den kurzen blonden Haaren sitzt am Computer und sucht nach Wohnungen, manchmal schaut er auch eine Serie an. Es ist der Versuch, Normalität herzustellen, ehe er wieder auf die Straße geht. Dort wird Tiemann bleiben - den ganzen Tag und die ganze Nacht. Er ist obdachlos, campt seit Monaten mit einem Zelt in Dortmund. Der Mann, der es nach eigener Erzählung bei der Bundeswehr zum Feldwebel brachte und später als Gas- und Wasserinstallateur arbeitete, will das ändern. Neue Wohnung, Job, weg mit den Schulden, so lässt sich sein Plan zusammenfassen. Das Vorhaben ist kompliziert.

Menschen wie Tiemann sind in ziemlich jeden Misthaufen gerannt, den das Leben bereithält - oder gerannt worden. So genau lässt sich das hinterher nie sagen. Familienkrisen, psychische Probleme, Schulden oder Drogen sind häufige Gründe für den Absturz. Danach kämpfen Tausende Obdachlose in Deutschland abseits des öffentlichen Interesses den Kampf zurück in die Gesellschaft. Viele der mehr als 50 000 Menschen, die hierzulande auf der Straße leben, scheitern. In den vergangenen Jahren landeten immer mehr Menschen draußen.

An Essen, Trinken und Schlafstellen kommen Bedürftige in den meisten Städten recht einfach. Darüber hinaus wird es eng. Passende Arbeitsplätze für Menschen, die von der Straße kommen, fehlen, sagt Rolf Keicher. Er ist bei der Diakonie für die Wohnungsnotfall- und Straffälligenhilfe zuständig. Keicher und seine Kollegen vom sozialen Dienst der evangelischen Kirche erleben die Misere jeden Tag. Dazu gehört die Wohnungsnot. Wegen steigender Mietpreise in den Städten werde es teils unmöglich, an Wohnungen für Obdachlose zu kommen, sagt Keicher. Missstände auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt treffen diejenigen, die weder Wohnung noch Arbeit haben, besonders hart.

Mühsames Leben auf der Straße: Ein Obdachloser bittet um Geld. (Foto: Jan-Philipp Strobel, dpa)

Der Dortmunder Tiemann sieht Arbeit als Basis für den Neuanfang. Er verkauft Obdachlosenmagazine. Mit Trinkgeld sei das lohnenswerter als Betteln, sagt er. Es ist ein Sprung von zehn auf mehr als 20 Euro pro Tag. Nichts zu tun, das habe er rasch gemerkt, nachdem er wegen Mietschulden aus der Wohnung geflogen war, bringe nichts. Beim Verkauf kommt er in Kontakt mit jenen, deren Leben man wohl "normal" nennt.

Im Kapuzenpulli betritt Tiemann ein schmales Ladenlokal an Dortmunds Stadtring. Ein Tresen, davor Ständer mit Secondhandkleidung, dort werden die Hefte zum weiteren Verkauf ausgegeben. Tiemann kramt einen zerknitterten Geldschein aus der Hosentasche, dafür kauft er bei den Mitarbeitern des Ladens das Magazin Bodo, 1,25 Euro pro Stück, bis der Rucksack voll ist. Für 2,50 Euro bietet er es auf der Straße an. Tiemann greift seinen Stapel. Mit der S-Bahn pendelt er nach Bochum. Ein paar Mal die Woche fährt er, um in der Nachbarstadt zu verkaufen. "Die Arbeit bringt mir einen normalen Tagesablauf", sagt Tiemann. Zwischen Elektroladen und Klamottendiscount hat er seinen Platz. Vier, fünf Hefte hält er in der Hand, der Rest liegt im Rucksack. Wie eine Statue steht Tiemann lächelnd an seinem Platz. "Wenn es gut läuft, verkaufe ich zehn, zwanzig Hefte am Tag", sagt Tiemann. Solche Erfolgserlebnisse verschaffen ihm Selbstbewusstsein. Ihm hilft die Eigenverantwortung. "Ich kann selber entscheiden, wie viel ich mache", sagt Tiemann. Acht Stunden Arbeit am Tag, fünf Tage die Woche, das traut er sich noch nicht zu.

Vermieter haben Angst um ihre Wohnungen. Dabei übernehmen Kommunen oft Reparaturkosten

"Jemand, der längere Zeit wohnungslos ist, kann oft nicht direkt in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden", sagt Diakonie-Mann Keicher. Viele hätten etwa psychische Probleme, die Menschen bräuchten Zeit. Konzentriertes Arbeiten oder Tugenden wie Pünktlichkeit müssen viele, die auf der Straße waren, noch lernen. Sie brauchen Betreuung. Nötig seien Angebote zwischen Behindertenwerkstatt und zweitem Arbeitsmarkt, also öffentlich bezuschussten Stellen, sagt Keicher. Solche Jobs böten etwa Wohnungslosenhilfen oder Integrationsfirmen an. Auch private Initiativen wie Obdachlosenmagazine wollen den Einstieg in den Arbeitsmarkt ermöglichen. "Es gibt in Deutschland einzelne Projekte", sagt Keicher: "Aber flächendeckende Hilfen fehlen."

Gökkan Yildirim weiß, dass es momentan vor allem Glück braucht, um von der Straße an eine Wohnung und Arbeit zu kommen. Er hat mittlerweile beides. Der Absturz des heute 36-Jährigen dauerte Jahre. Drogensucht, Beschaffungskriminalität, Knast, Schulden, Obdachlosigkeit. Seit sechs Jahren möchte Yildirim anders sein. In Dortmund verkaufte auch er Obdachlosenzeitungen, bis er vor Kurzem eine reguläre Stelle bekam. Abends räumt er in dem Bio-Supermarkt auf, vor dem er einst Hefte verkaufte. Die Mitarbeiter dort hätten ihn kennengelernt und ihm eine Chance gegeben, sagt Yildirim. Dennoch sind nach Jahren nicht alle Probleme gelöst. Mit der Privatinsolvenz versucht Yildirim, seine Schulden loszuwerden. Mehr als jeder zweite Obdachlose hat Schulden, hat die Diakonie ermittelt. Spätestens wenn sie wieder einen festen Wohnsitz haben, klopfen die Gläubiger an die Tür. Viele in Yildirims Situation müssten sich zur Privatinsolvenz als Ausweg durchringen. Wenn alles klappt, hat er es bald hinter sich.

Für Fremde bleibe dennoch der Makel im Lebenslauf, sagt Yildirim. Gern würde er in einen anderen Stadtteil leben. Er will weg aus dem grauen Haus in der Dortmunder Nordstadt, die den Ruf des sozialen Brennpunkts nicht loswird. Auf den Gehwegen klebt der Müll. Das Flackern des Blaulichts ist Teil vieler Nächte. Wer Drogen will, bekommt sie im Viertel wohl auch. Die Wohnungen sind günstig, aber für jemanden mit Yildirims Geschichte gibt es bessere Ecken. Doch aus einem Umzug wird nichts. "Bei den Wohnungsgesellschaften bin ich wegen meiner Privatinsolvenz ohnehin raus", sagt Yildirim. Viele private Vermieter seien ob seiner Biografie zumindest skeptisch. Während er erzählt, starrt er an die Wand und dreht sich die nächste Kippe. Die Rückschläge setzen ihm zu, obwohl er mehr erreicht hat als viele in ähnlichen Situationen. "Ich will doch irgendwie weiterkommen", sagt Yildirim.

Werena Rosenke arbeitet "gegen die Stigmatisierung von Wohnungslosen". Sie ist Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. "Immer mehr Menschen können sich nur preiswerte Wohnungen leisten", sagt Rosenke. Plötzlich sind Arbeitnehmer mit geringen Einkommen, Arbeitslose und Obdachlose Konkurrenten. Für die von der Straße bleibt kaum eine Nische.

Rosenke setzt bei den Kleinvermietern an, die immerhin 60 Prozent aller Wohnungen in Deutschland anbieten. "Die haben häufig Vorurteile gegenüber Menschen, die wohnungslos waren", sagt Rosenke. Dabei wäre die Miete in vielen Fällen durch Sozialleistungen abgedeckt. Größer ist die Angst um den Zustand der Wohnung. "Kommunen könnten bei Problemen und Reparaturen die Gewährleistung übernehmen", empfiehlt Rosenke. In der Regel passiere ohnehin nichts, aber das vermittle Sicherheit. Zunächst scheint der Vorschlag vor allem Kosten zu verursachen. Rosenke rechnet die Investitionen gegen Ausgaben auf, die für Obdachlosenunterkünfte und -betreuung notwendig sind.

Zusätzlich fordert sie Hilfe der Bundesregierung. Der soziale Wohnungsbau müsse gestärkt werden. Seit 1990 ist der Bestand an Sozialwohnungen um etwa 60 Prozent gesunken. Rosenke verlangt, dass die Bundesregierung den Trend deutlich umkehrt: "25 000 neue Sozialwohnungen pro Jahr sind zu wenig, es sollten 150 000 sein." Schließlich hätten in einigen Städten bis zu 50 Prozent der Einwohner einen Anspruch auf eine Sozialwohnung. Da haben Obdachlose kaum eine Chance, und Politik wird eben selten explizit für sie gemacht.

© SZ vom 26.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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