Mittwochsporträt:Mal was Neues

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Holger Bingmann ist Pressegroßhändler, Hochschulgründer und Herbergsvater für Berliner Blogger und Kreative. Auf diese Weise will er sein klassisches Ursprungsgewerbe ins digitale Zeitalter überführen.

Von Henrike Roßbach

Wenn man beschreiben will, was Holger Bingmann beruflich macht, trifft es "Reisender zwischen den Welten" vermutlich ganz gut. Zwischen digitaler und analoger Wirtschaft ist er unterwegs, zwischen Old Economy und Zukunftsmusik, München und Berlin. Zumindest klamottentechnisch hat das Weltenwandeln an diesem Tag mustergültig hingehauen: Unten Jeans mit Turnschuhen, oben Jackett mit Einstecktuch, so steht der 56-Jährige in einem Büroloft in Berlin-Kreuzberg und ist erkennbar guter Dinge.

Bingmann ist geschäftsführender Gesellschafter der Melo Group, eines internationalen Dienstleistungs- und Medienkonzerns, der aus dem 1945 in München gegründeten Pressevertrieb Hermann Trunk hervorgegangen ist. Die Gründerfamilie Trunk ist noch heute an der Gruppe beteiligt. Bingmann selbst war 39 Jahre alt, als er den Presse-Grossisten kaufte; zuvor hatte er für Daimler-Benz in Brüssel gearbeitet und für einen Pressegroßhändler in Baden-Württemberg. Heute macht Bingmanns Firmengruppe knapp 300 Millionen Euro Umsatz im Jahr und beschäftigt rund 2000 Leute in sechs Ländern. Zum Pressegroßhandel sind Paket- und Flughafendienstleistungen hinzugekommen, wie das Catering an Bord oder die Reinigung der Teppiche am Schalter. Zudem beliefert Bingmanns Firmengruppe nicht mehr nur 20 000 Kioske zwischen Budapest und Ulm, sondern bestückt auch den Online-Kiosk der Lufthansa. Der Pressegroßhandel steht zwar weiter für die Hälfte von Umsatz und Ertrag, den Rest aber erwirtschaften die neuen Geschäftsfelder. Gerade weil er aus einer klassischen Branche kommt, will Bingmann nicht zu jenen gehören, die zwar ihre Abläufe digitalisieren, aber letztlich kein digitales Geschäftsmodell haben.

Was auch Kreuzberg und die Turnschuhe erklärt. "Blogfabrik" steht unten am Eingang, der in einem Berliner Backstein-Hinterhof liegt. Start-up-Terrain. Oben sitzen Frauen und Männer mit Laptops an langen Tischen und zwischen pinken und türkisen Trennwänden. Im turnhallengroßen Veranstaltungsraum sind externe Anzugträger zu einem Stuhlkreis zusammengekommen. In der Küche essen Männer mit Bart und Wollmütze Mittag; Bürohund Lola dagegen interessiert sich für den Kuchen auf Bingmanns Teller. Bingmann, promovierter Betriebswirt und Hobby-Rennradler, trägt eine runde Brille und gescheiteltes helles Haar. Er sieht vergnügt aus, spricht eher leise als laut und wirkt generell wie jemand, der unangestrengt freundlich sein kann, weil er in sich ruht.

Holger Bingmann wirkt wie jemand, der in sich ruht. Um das zu erreichen, hat er allerdings auch dazulernen müssen, seinen Arbeits- und Führungsstil geändert. Es hat sich gelohnt. (Foto: Christoph Neumann/www.christoph-neumann.com)

600 Quadratmeter "kreativen Raum" stellten sie hier zur Verfügung, sagt er und zieht sein Jackett aus. 80 Blogger, Youtuber, Grafiker und Influencer arbeiten in der vor drei Jahren gegründeten Blogfabrik. "Alles kleine, selbständige Unternehmer, die hier ihrer Arbeit nachgehen und uns einen Teil ihrer Kreativität abgeben." Im Prinzip funktioniert die Blogfabrik wie eine Mini-Agentur. Die Fabrikanten bekommen einen Arbeitsplatz, für den sie nur eine symbolische Miete zahlen müssen; sie kommen und gehen, wann sie wollen, arbeiten an ihren Projekten, nutzen das Fotostudio und können sich kostenlos von einem Medienanwalt beraten lassen. "Entspannte Nutzung bis zur Party", sagt Bingmann.

Die Gegenleistung ist, dass die fünf bis sechs fest angestellten Blogfabrik-Manager die Freiberufler regelmäßig anfragen dürfen, ob sie einen von außen hereingekommen Auftrag übernehmen wollen. Gegen Bezahlung und freiwillig, sagt Bingmann und zwinkert. Das anfangs getestete Konzept eines "modernen Sklaventums" habe nichts gebracht.

"Wir machen zum Beispiel eine SocialMedia-Kampagne für eine große deutsche Bank", nennt Bingmann ein Beispiel für solche Auftragsprojekte. Mittelfristig erhofft er sich aber mehr. So habe eine große Fluggesellschaft gefragt, ob er neben digitalen Zeitungen nicht noch weitere Inhalte liefern könnte. "Zum Beispiel Restauranttipps von Foodbloggern aus New York, statt der üblichen Touristenfallen." Noch, sagt Bingmann, sei er da nicht angekommen, "und ich weiß auch gar nicht, ob es überhaupt klappt". Zu beunruhigen scheint ihn das aber kaum. Für dieses Jahr rechnet er noch mit einem "kleinen Minus" für die Blogfabrik. "Ich mache aber jede Wette, dass sie 2019 Geld verdient."

"Wir haben Arbeitsplatz und Arbeitszeit freigegeben. Und es funktioniert."

Bingmann hat inzwischen ein Faible für den Wandel. Das war nicht immer so. 20 Jahre lang war er ein klassischer Patriarch. Irgendwann aber merkte er, dass Struktur und Kultur seiner Melo-Gruppe immer größere Reibungsverluste produzierten angesichts der Firmenzukäufe und des Wachstums von 100 auf 2000 Mitarbeiter. Er engagierte einen Coach, erst für sich, dann für die Führungskräfte. Er lernte einen neuen Führungsstil und stellte einiges auf den Kopf. Die Zentrale in München, wo 100 Leute arbeiten, ließ er bis auf die Außenmauern abreißen und neu errichten. "Da sieht es jetzt aus wie hier", sagt er und macht eine raumgreifende Armbewegung über die Blogfabrik hinweg. "Ich mag solche Strukturen." Feste Büros gibt es keine mehr, auch er hat keins. Wenn er einen Schreibtisch braucht, aktiviert er "M" im Kalender, dann wird ein Platz für ihn reserviert, mit Glück in seiner Lieblingsecke. "Wir haben Arbeitsplatz und Arbeitszeit freigegeben. Und es funktioniert. Ich bin von der höheren Kreativität überzeugt." Vielleicht, sagt er, sitze dann mal einer früher im Biergarten. Dafür aber schaue der abends noch mal in seine Mails. "Wir haben heute einen viel entspannteren Umgang miteinander."

Auch Bingmann selbst nahm sich sein Stück Freiheit. "Als Vorbild", sagt er. Er brachte seine Töchter zum Schulbus, freitags blieb er immer mal wieder zu Hause, ging Rennradfahren, arbeitete im Home-Office, holte die Mädchen pünktlich wieder ab. Denn wie schwer die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sein kann, weiß er. Seine erwachsenen Söhne aus erster Ehe wuchsen nach der Trennung bei ihm auf. Alleinerziehender Vater und Unternehmer, das allerdings waren wenig kompatible Welten. Bei den Töchtern aus seiner zweiten Ehe wollte er weniger abwesend sein - und das auch seinen Leuten ermöglichen.

Im Moment allerdings klappe das nicht mehr so recht mit den freien Freitagen, sagt Bingmann fast entschuldigend. Der Grund ist, dass sich der gebürtige Stuttgarter im Herbst vergangenen Jahres zum Präsidenten des Groß- und Außenhandelsverbands BGA hat wählen lassen, obwohl er eher ein Außenseiter war in der Verbändewelt. Er sei neugierig gewesen auf das Zusammenspiel von Wirtschaft und Politik, sagt er. "Eine Lebensergänzung." Dass er wenig Verbandssozialisation hinter sich hat, merkt man. Bingmann spricht freier, als das andere auf vergleichbaren Posten tun. Sein Pressesprecher zuckt dann schon mal zusammen im Interview. "Ich trage hier in Berlin zu einer gewissen Lockerheit bei", nennt Bingmann das.

Das Tagesgeschäft überlässt er nun anderen - und hat damit Freiraum für neue Projekte

Aus dem operativen Tagesgeschäft seiner Firma hatte er sich ohnehin schon etwas zurückgezogen, weil er Freiraum für neue Projekte wollte. Bingmann bezeichnet es gerne als seine größte unternehmerische Leistung, gute Leute gefunden zu haben, die jetzt an seiner statt Verantwortung tragen. Er gründete derweil in Berlin eine Universität, die "Digital Business University". Seit Februar läuft der Akkreditierungsprozess, was mindestens 14 Monate dauern wird. 1200 Seiten dick seien die Unterlagen gewesen, sagt Bingmann und schüttelt immer mal wieder leicht den Kopf, während er unter anderem von der Präsenzbibliothek spricht, zu der er verpflichtet wurde. Obwohl es in der neuen Uni nur eine Woche Präsenzpflicht im Monat geben und der Rest online laufen soll. "45 000 Euro müssen wir für Bücher ausgeben und 6,5 Professoren einstellen."

Am Ende soll man an der neuen Hochschule "einen ordentlichen Bachelor" machen können, später auch einen Master, für 490 Euro Studiengebühren im Monat. Schon im Herbst soll es zudem die ersten Lehrgänge zur berufsbegleitenden Weiterbildung in und an großen Unternehmen gebe. "Für kreative Menschen, die Dinge anders machen wollen." Bingmann glaubt daran, dass man mit Bildung Geld verdienen kann. Er klickt sich auf seinem Tablet durch eine Präsentation. "Digital Business Management" soll ein Studiengang heißen, "Data Science / Business Analytics" ein anderer. "Wir brauchen neue Ausbildungsangebote", sagt er und spricht über entstehende und verschwindende Berufe. In seiner Firma etwa habe er nur einen, der sich mit Big Data auskenne. "Wir brauchen diese Leute aber. Auch wenn es manchmal schwierig ist, unser verrücktes Konzept zu erklären."

© SZ vom 13.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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