Massenpensionierung:Das Telekom-Virus von Leer

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Ein Manager soll dafür büßen, dass massenhaft Beamte der früheren Bundespost unter fragwürdigen Umständen pensioniert wurden. Der Fall wird jetzt in Ostfriesland verhandelt.

Von Martin Reim

Der Fernmeldehauptsekretär a.D. will nicht, dass sein Name in der Zeitung steht. Ihm ist mulmig bei der Vorstellung, dass ihn sein früherer Arbeitgeber, die Deutsche Telekom, wegen Verrats von Dienstgeheimnissen belangen könnte.

Deich in Pilsum, Ostfriesland. (Foto: Foto: AP)

Das kann man verstehen, denn der 59-Jährige weiß pikante Interna aus der Telekom-Niederlassung im ostfriesischen Leer zu berichten - aus jener Zeit vor zehn Jahren, als sich der Beamte zum ersten Mal ernsthaft überlegte, wie schön es im vorzeitigen Ruhestand sein könnte.

Die Telekom steckte damals mitten in den Vorbereitungen für ihren Börsengang, und die Schockwellen waren bis in die niedersächsische Kleinstadt zu spüren.

Immer neue Schreibtischjobs

Das Unternehmen beschäftigte viel zu viele Leute, durch den Fortschritt in der Telekommunikation hatten Brigaden von Technikern ihre eigentliche Aufgabe verloren und wurden auf immer neue Schreibtischjobs verschoben.

"Die Arbeit machte überhaupt keinen Spaß mehr", sagt der Ruheständler, während er an seinem Wohnzimmertisch sitzt und in vergilbten Unterlagen blättert.

Im Herbst 1994 fragte er vorsichtig bei seiner Dienststelle nach, ob eine vorzeitige Pensionierung aus gesundheitlichen Gründen möglich sei.

Immerhin Rückenbeschwerden

Immerhin hat er einen angeborenen Fehler an der Wirbelsäule, war einige Male wegen Rückenbeschwerden in Behandlung, spürte häufig Schmerzen und fehlte deshalb immer wieder.

Die Reaktion des Personalchefs übertraf alle seine Erwartungen. "Er bekam ein Leuchten in den Augen und fragte wie aus der Pistole geschossen: 'Wann wollen Sie gehen?'"

Auf die Antwort 'Möglichst bald' folgten rasch Taten. Der Mitarbeiter wurde vom Betriebsarzt untersucht, ging in Kur, kam für einige Tage zurück und wurde umgehend wieder nach Hause geschickt. Einige Monate später verließ er den Staatsdienst für immer. Ruhegehalt: Rund 3000 DM pro Monat.

Leicht gemacht

Der Fernmeldehauptsekretär a.D. lehnt sich in seinen Ohrensessel zurück und sagt: "Wenn die es mir nicht so leicht gemacht hätten, wäre ich geblieben."

Vorgänge dieser Art werden von diesem Mittwoch an vor dem Amtsgericht Leer zur Sprache kommen. Angeklagt ist der mittlerweile freigestellte stellvertretende Leiter der Telekom-Niederlassung, der Anfang 1995 Führungsaufgaben übernommen hatte.

Er hat laut Staatsanwaltschaft des nahe gelegenen Ortes Aurich zwischen März 1995 und August 1996 seine Unterschrift unter etwa 190 Anträge auf Frühpensionierung gesetzt - eine beachtliche Zahl gemessen an den rund 2000 Beamten unter seiner Obhut.

Die Anklage ist der Ansicht, er habe dies in mindestens 64 Fällen widerrechtlich getan. Der Manager soll auf diese Weise auf Sparvorgaben aus der Konzernleitung reagiert haben. Ihm wird Betrug zu Lasten der Staatskasse vorgeworfen, weil die Telekom die Gehälter sparte und der Bund stattdessen den Großteil der Pensionen übernehmen musste. Geschätzter Schaden: knapp eine halbe Million Euro pro Jahr.

Bundesweite Bedeutung

Beobachter messen dem Verfahren bundesweite Bedeutung zu. Denn seit Mitte der Neunzigerjahre hat die Telekom Zehntausende von Beamten mit medizinischen Begründungen in Frühpension geschickt.

Nun kommt es erstmals zu einem Prozess. Konkret wirft die Staatsanwaltschaft dem Manager vor, die eingereichten Unterlagen hätten für eine Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand nicht ausgereicht - sowohl vom Umfang der Akten her als auch von der Art der angeblichen Krankheiten.

So kam beispielsweise ein 41-jähriger Beamter mit einem Attest seines Hausarztes durch, in dem als einziger Befund stand, der Patient habe "chronische Schmerzzustände". Einem 46-Jährigen attestierte ein Doktor ganz pauschal "gesundheitliche Gründe" für ein Ausscheiden - das reichte schon. Und bei einer 42-Jährigen lag überhaupt keine ärztliche Bescheinigung vor; zudem hatte die Beamtin nicht einmal einen Antrag auf Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand gestellt.

Titan in der Wirbelsäule

Der Fernmeldehauptsekretär a.D. sieht sich nicht in einer Reihe mit solchen Beispielen. Seine Pensionierung sei schon auf dem Weg gewesen, als der Angeklagte noch nicht im Amt war. Außerdem habe er sein Leben lang tatsächlich Rückenprobleme gehabt, betont er und fügt quasi als Beweis hinzu: "Vor zwei Jahren haben sie mir sogar für 5000 Euro Titan in die Wirbelsäule schrauben müssen!"

Aus Gesprächen mit ehemaligen Kollegen habe er allerdings den Eindruck gewonnen, dass in der Zeit nach seinem Ausscheiden das Vorgehen sehr lax geworden sei. "Wie ich gehört habe, sind dann auch 32- bis 35-Jährige mit irgendwelchen Wischen nach Hause gegangen."

Durch die Häufung solch krasser Fälle wurde Bernhard Fokken auf die Sache aufmerksam. Beim damaligen Chefredakteur der Ostfriesen-Zeitung, eines Lokalblatts, meldeten sich immer wieder Leser, die sich darüber wunderten, dass Telekom-Mitarbeiter aus ihrem Bekanntenkreis in Frühpension geschickt wurden - und munter ein zweites Leben begannen.

Schlauchboot-Fahrten und Tennis-Titel

Ein Rückenpatient fuhr als Greenpeace-Aktivist im Schlauchboot, um gegen den Ausbau der nahe gelegenen Ems zu protestieren. Ein zweiter errang im Postsportverein die Tennis-Titel im Einzel, Doppel und Mixed. Ein dritter spielte beim SC 04 Leer erfolgreich Tischtennis. Eine Beamtin, mit gut 30 Lebensjahren pensioniert, kandidierte in ihrem Heimatort für die Grünen im Gemeinderat. Eine etwas ältere Dame trat für die FDP an und nahm "sparsame Hauhaltsführung" in ihren Forderungskatalog auf.

"So etwas störte viele Leute", sagt Fokken. Er bekam anonyme Hinweise über die internen Vorgänge bei der Telekom, die er nur noch zu verifizieren brauchte. Ein Rechtsanwalt erstattete mit Verweis auf die Presseberichte Anzeige bei der Staatsanwaltschaft, was die Sache ins Rollen brachte.

Seitdem sind acht Jahre vergangen - eine außergewöhnlich lange Zeit für Ermittlungen, wie Oberstaatsanwalt Werner Kramer einräumt. Über das Ergebnis zeigt er sich jedoch zufrieden. "Wir wollten die Sache trotz aller Hindernisse vor Gericht bringen. Das ist uns nun gelungen", sagt der drahtige, hochgewachsene Endfünfziger.

Ein eher unüblicher Vorgang

Die erste Hürde tauchte auf, als seine Behörde im Jahr 1999 erstmals Anklage gegen den Manager erhob. Das Landgericht Aurich lehnte die Eröffnung des Verfahrens ab - ein eher unüblicher Vorgang.

Der grauhaarige Staatsanwalt schüttelt noch heute den Kopf, wenn er die Begründung wiedergibt: "Es hieß damals sinngemäß, der Bund habe gar keinen Schaden erlitten. Der Personalabbau habe den Aktienkurs der Telekom gehoben, und der Bund sei schließlich der größte Anteilseigner."

Die Staatsanwaltschaft sei jedoch von einem anderen Schadensbegriff ausgegangen, sagt Kramer, weshalb man sich an das Oberlandesgericht Oldenburg gewandt habe. Das gab den Anklägern überwiegend Recht und verwies die Sache zurück ans Landgericht.

Dann starb der Gutachter, der geprüft hatte, ob die Unterlagen für die Frühpensionierungen tatsächlich für solch eine Entscheidung ausreichend waren. Ein neuer Experte musste gefunden werden und ein zweites Traktat schreiben.

Geringes Strafmaß zu erwarten

Im Sommer 2004 nahm das Landgericht Aurich schließlich die zweite Anklageschrift an, eröffnete das Verfahren jedoch nicht vor der Wirtschaftskammer. Die Sache ging an das Amtsgericht Leer, das zum selben Gerichtsbezirk gehört. Begründung für diesen Schritt: Es sei nur ein relativ geringes Strafmaß zu erwarten. Das ergebe sich unter anderem aus der ungewöhnlich langen Dauer des Verfahrens, an der den Angeklagten keine Schuld treffe.

Staatsanwalt Kramer selbst sagt, er rechne nicht mehr mit einer Verurteilung zu Freiheitsentzug, sondern höchstens mit einer Geldstrafe. Sogar eine Einstellung des Verfahrens gegen Zahlung einer Geldbuße sei vorstellbar. "Wir würden uns auch gegen eine solche Entscheidung nicht wehren, insbesondere wegen der überlangen Verfahrensdauer."

Fragt man Frühpensionierte, was sie über das Verfahren denken, so halten die meisten von ihnen den Manager zumeist für unschuldig. "Es gab einfach nicht genügend Arbeit für uns. Was sollte er denn tun?", fragt der ehemalige Fernmeldehauptsekretär.

"Bauernopfer"

Eine frühere Untergebene des Angeklagten bezeichnet ihn als "Bauernopfer für das, was bei der Telekom ganz oben angeordnet wurde". Ein Beamter a.D. erzählt, dass er Kollegen aus Bayern und Rheinland-Pfalz kenne, die unter den gleichen Umständen wie in Ostfriesland in den Ruhestand geschickt worden seien. "Das lief doch überall auf die gleiche Tour."

Die amtliche Statistik scheint diesen Eindruck zu bestätigen und rückt auch die Deutsche Post ins Zwielicht, den anderen großen Abkömmling der früheren Deutschen Bundespost. Zwischen 1995 und 2001 sind bei beiden Unternehmen insgesamt mehr als 70.000 Beamte aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig in den Ruhestand versetzt worden.

Besonders bemerkenswert ist der Anteil der Dienstunfähigen an der Gesamtheit aller Pensionäre: Er lag beispielsweise im Jahr 2001 bei 98 Prozent. Es ging damals also kaum einer wegen Erreichens der Altersgrenze.

Vergleichbare Verfahren wieder eingestellt

Sprecher von Telekom und Post betonen auf Anfrage, dass damals alles mit rechten Dingen zugegangen sei. Nach Angaben von Oberstaatsanwalt Kramer hatte eine Reihe anderer Staatsanwaltschaften in den vergangenen Jahren wegen solcher Vorfälle Ermittlungen aufgenommen. Sie wurden aber seines Wissens nach alle wieder eingestellt.

Möglicherweise bringt der Prozess einigen Aufschluss darüber, was innerhalb der Telekom-Hierarchie geschehen sein könnte. Der angeklagte Niederlassungsleiter hatte sich laut Staatsanwaltschaft seit Beginn der Ermittlungen nicht zu den Vorwürfen geäußert. Nach Angaben seines Anwalts will er das an diesem Mittwoch nachholen.

© SZ vom 01.12.04 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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