Mannesmann-Prozess:Die Frau, die zu viel wusste

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Sachbearbeiterin Helga Anna Schoeller, die das Verfahren mit ins Rollen brachte, muss nun zusehen, dass alles umsonst war.

Von Michael Kläsgen

Helga Anna Schoeller könnte seit vier Jahren den Ruhestand genießen. Aber die 66-Jährige ist Zeugin im Mannesmann-Prozess, und wenn sie an den Prozess und an die Wochen im Februar 2000 zurückdenkt, steigt ihr die Zornesröte ins Gesicht.

Helga Anna Schoeller trägt Pagenschnitt und mit Vorliebe unifarbene Blusen. Sie ist eine ruhige, besonnene Frau. Doch sie kann vor nervösem Husten kaum mehr reden, wenn die Bilder von damals zurückkehren. "Vor Wut", wie sie sagt.

"Das geht so nicht"

Sie erinnert sich genau, wie ihr Vorgesetzter damals in ihr Büro im Behrensbau am Mannesmann-Ufer kam und ihr ein zweiseitiges Beschluss-Protokoll des Aufsichtsratspräsidiums reichte.

Die größte Übernahmeschlacht aller Zeiten war gerade gelaufen, Vodafone hatte Mannesmann auf dem Höhepunkt des Börsenbooms übernommen, Aktien im Wert von 180 Milliarden Euro sollten den Besitzer wechseln. Und Schoeller sollte ausführen, was auf dem Papier stand - insgesamt 30 Millionen Euro als "Anerkennungsprämien" an den Vorstandschef Klaus Esser und sein Team zahlen.

25 Jahre lang hatte Schoeller jedes Protokoll des Präsidiums geschrieben. Aber dieses kannte sie nicht. Sie sah auf den ersten Blick, dass das Schriftstück Formfehler aufwies. Es fehlten Unterschriften, und einer der Unterschreibenden begünstigte sich selber.

"Das geht so nicht", sagte sie zu ihrem Vorgesetzten. Der entgegnete: "Da kommt noch was." - "Das hilft nichts, weil Herr Dr. Funk sich selber Geld genehmigt", antwortete sie. Joachim Funk war damals Aufsichtsratsvorsitzender von Mannesmann.

In der gleichen Woche saß ein Wirtschaftsprüfer im Büro von Schoeller, um die Vorstandsbezüge und die Protokolle des Aufsichtsratspräsidiums für das Jahr 1999 zu prüfen. Schoeller sammelte ihren Mut und zeigte ihm den Beschluss. Eine folgenreiche Handlung. Hätte sie das nicht getan, wäre es vielleicht nie zum Mannesmann-Prozess gekommen.

Die Strafanzeige, die zum Prozess führte, hatten zwar zwei Stuttgarter Anwälte gestellt, nachdem der Verdacht aufgekommen war, Esser habe sich die Zustimmung zur Übernahme abkaufen lassen.

Aber die Anklageschrift der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft bezieht sich in weiten Teilen auf die protokollierten Gespräche der Wirtschaftsprüfer, die diese wegen der Formfehler des Beschlusses mit Esser und Funk führen mussten.

Hätte Sachbearbeiterin Schoeller die Anweisung ihres Vorgesetzten stillschweigend ausgeführt, wäre es zu diesen Rechtsgesprächen, die den Mannesmann-Prozess über Wochen hinweg dominierten, nie gekommen.

Die Wirtschaftsprüfer wären erst im folgenden Jahr bei der Prüfung der Vorstandsbezüge 2000 auf das Beschluss-Protokoll gestoßen. Dann wäre es sehr viel schwieriger gewesen, die Dinge im Nachhinein zu rekonstruieren.

Unwürdige Veranstaltung

Bis zu diesem Tag im Februar 2000 war Mannesmann Schoellers Leben. Ihr Großvater war bei Mannesmann, ihr Vater war bei Mannesmann. Sie hat die Fußball-Weltmeisterschaft 1954 im Radio bei Mannesmann erlebt, als Lehrling.

Sie ist die Verkörperung von Loyalität und Pflichtbewusstsein. Und dann sollte sie einen Monat vor ihrer Pensionierung ausgerechnet denjenigen, denen sie vorwarf, den 110 Jahre alten Konzern ruiniert zu haben, und die in diesem Zusammenhang auch noch von einem großartigen Geschäftserfolg sprachen, als Dankeschön Millionensummen überweisen.

"Ich wusste nicht, was ich da in Szene gesetzt habe", sagt Schoeller heute. Erst als anderthalb Jahre nach der Übernahme zwei Kriminalbeamte morgens um zehn Uhr bei ihr zu Hause klingelten und sie zur Vernehmung mit ins Landeskriminalamt nahmen, wurde ihr klar, was sie ausgelöst hatte.

Sieben Stunden lang wurde sie verhört - beim ersten Mal. 16 Stunden insgesamt. Die Beamten waren höflich, legten ihr Wäschekörbe voller Personalakten und Beschluss-Protokollen vor, über die sie zeitlebens höchste Diskretion bewahren sollte.

Helga Anna Schoeller war entsetzt. Das erste Mal in ihrem Leben musste sie ihre Schweigepflicht brechen. Sie, die in der Direktionsabteilung arbeitete, die sie hausintern "Diskretionsabteilung" nannten.

Bis zuletzt wünschte sie sich, dass es nicht zum Prozess kommen würde. Denn die Beamten hatten ihr gesagt, dass sie im Zeugenstand vor aller Öffentlichkeit ihre Aussagen wiederholen müsste.

Ihr Wunsch ging nicht in Erfüllung. Seit Januar dieses Jahres sitzen ihre ehemaligen Chefs auf der Anklagebank des Düsseldorfer Landgerichts: Klaus Esser, Joachim Funk und ihr ehemaliger Vorgesetzter Dietmar Droste.

Außerdem: der heutige Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann, der mit Funk das Protokoll direkt unterzeichnete, sowie Ex-IG-Metallchef Klaus Zwickel und Gesamtbetriebsratschef Jürgen Ladberg, die im Präsidium des Aufsichtsrats saßen, das die Prämien bewilligen musste.

Sie sollen das Vermögen der Mannesmann AG geschädigt und umgerechnet fast 60 Millionen Euro veruntreut haben. Und doch ist wahrscheinlich, dass alle Angeklagten Mitte Juli freigesprochen werden. Weil es nicht leicht sein wird, ihnen schwere Untreue oder Beihilfe dazu nachzuweisen. Das Beschluss-Protokoll wurde "geheilt", wie es im Juristendeutsch heißt, das heißt, Bedenken wurden ausgeräumt.

Wenn Helga Anna Schoeller als Besucherin in den Schwurgerichtssaal L111 geht, kommt sie meist mit einer Gruppe von Ex-Kollegen und setzt sich in die letzte Reihe. Sie hat fast alle Verhandlungen vor Gericht besucht.

Dass ihre Vernehmung kaum Wirkungen hatte, kreidet sie den Fragen der Staatsanwälte an. Die meisten, die vorn als Zeugen aussagen, kennt sie seit Jahrzehnten. Manchmal flüstert sie: "Die zieht wieder eine Schau ab" oder "Der kann sich jetzt bestimmt nicht mehr erinnern."

Den Prozess hält sie für eine unwürdige Veranstaltung, in der pure Ahnungslosigkeit herrscht oder mehr oder minder gut geschauspielert wird. Und doch gilt er als spektakulärstes Wirtschaftsstrafverfahren der deutschen Nachkriegsgeschichte. Allein den Umstand, dass die Elite der deutschen Wirtschaft vor Gericht sitzt, halten manche für einen Anschlag auf den Wirtschaftsstandort Deutschland.

Für Helga Anna Schoeller ist es nur ein schwacher Trost, dass der Prozess erstmals einer breiten Öffentlichkeit gezeigt hat, dass im Krisenfall nur zwei, drei Personen über das Schicksal eines Konzerns und damit über Tausende von Arbeitsplätzen entscheiden.

Sie bestürzt der Widerspruch, dass die Chefs eines Unternehmens, das übernommen werden soll, sich weniger den Beschäftigten als den Aktionären verpflichtet fühlen, weil sie dadurch ihre Bezüge steigern können. Während die einen an der Übernahme verdienen, verlieren die anderen ihren Job. "Man kann doch nicht mit dem Leben anderer Menschen pokern", sagt Schoeller. "Wo leben wir eigentlich?"

Noch heute scheut sie sich, Interna preis zu geben. Dann erzählt sie aber doch, stundenlang, ohne Unterbrechung. Später sorgt sie sich, zu viel gesagt zu haben, ruft früh morgens an: "Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen."

Andererseits ist Helga Anna Schoeller froh, all die Geschichten los zu werden. Einmal sagt sie: "Schreiben Sie keine weiche Geschichte. Ich bin nicht weich."

Andererseits erzählt sie, dass es ihr weh tat, als sie im Sommer vergangenen Jahres eine Führung durch das ehemalige Mannesmann-Hochhaus machte. In den Gebäuden war alles in Vodafone-Rot ausgekleidet. Schoeller empfand das als Affront. Trotzdem geht sie noch heute alle vier Wochen zum Friseur in den Behrensbau.

Sie war es gewohnt, mit Millionenbeträgen zu hantieren, überwies Vorständen und Vorstandspensionären ihre Gehälter, Renten und sonstigen Bezüge.

Viele der Unterlagen, die sie an ihrem Schreibtisch bearbeitete, waren so diskret, dass eine holzverkleidete Theke ihren Arbeitsplatz abschirmte, hinter die selbst ihr Chef nicht treten durfte. Den riesigen Zahlen gegenüber war sie abgestumpft, sagt sie.

Am Ende ihrer Laufbahn verdiente Schoeller ein Tarifgehalt plus übertariflicher Leistungszulage von 48 Mark. "Anerkennungsprämie" für die unbezahlten Überstunden und die Samstags- und Sonntagsarbeit, die sie seit November 1999 häufig leisten musste.

Auch durch Hindernisse bei der Überweisung der Prämien an Klaus Esser entstanden Überstunden. Der Computer sah damals keine Überweisungen in zweistelliger Millionenhöhe an Einzelpersonen vor und führte den Auftrag nicht aus.

Nach einiger Tüftelei meisterte Helga Anna Schoeller mit Unterstützung eines Kollegen auch dieses Problem. Wie hoch der Netto-Betrag am Ende war, daran kann sie sich nicht mehr erinnern.

© SZ vom 17.06.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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