Lokomotiven und Künstliche Intelligenz:Immer pünktlich

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Der Bau von Lokomotiven wie hier bei Siemens in München erfordert noch viel Handarbeit. Sensoren, die überwachen, ob Bauteile bald versagen, können dabei helfen, Ausfallzeiten so gering wie möglich zu halten. (Foto: imago/HRSchulz)

Züge, die auf freier Strecke stehenbleiben - dank Sensoren könnte es damit bald ein Ende haben. Wie Siemens die Eisenbahntechnik zuverlässiger machen will.

Von Michael Kuntz, München-Allach

Wann kommt er endlich? Jeder hat es erlebt, durchlebt, dass ein Zug verspätet eintraf oder aber überhaupt nicht. Die Ursachen dafür sind vielfältig, doch mithilfe von künstlicher Intelligenz soll es gelingen, sie so in den Griff zu bekommen, dass technische Mängel an Fahrzeugen und am Gleisnetz bereits erkannt werden, bevor sie auftreten. Wenn das gelingt, sollen Pünktlichkeitsraten von 99 Prozent realistisch werden.

Maschinen, die lernen wie Kinder, dabei immer schlauer werden und selbständiger - sie sind zur Zeit das zentrale Thema bei Veranstaltungen, die sich mit der Zukunft beschäftigen. Eines nicht fernen Tages "wird mehr Wissen von Maschinen erzeugt als von Menschen", sagt Jack Thoms vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz bei einem Werkstattgespräch, organisiert vom Lokomotiven-Hersteller Siemens und dem Datenbankspezialist Teradata im historischen Krauss-Maffei-Komplex in München-Allach. Kurz ist hier der Weg von der Theorie zur Praxis: Wenige Schritte entfernt sind Lokfabrik und Datenlabor von Siemens.

Wie künstliche Intelligenz die Mobilität verändern wird, es lässt sich ausgerechnet im Münchner Vorort Allach besichtigen. Hier im historischen Industriewerk aus den 1930er-Jahren werden Lokomotiven einerseits noch von Menschen zusammengeschweißt. In den Gehäusekästen aus Stahl steckt viel Handarbeit. Die Lok-Rohlinge werden aus der Halle gezogen und per überdachter Schiebebühne versetzt und wieder in die Halle geschoben. Fließtakt-Fertigung nennen sie das. Das Innere der Lok-Körper wird dann je nach Kundenwunsch gefüllt mit Elektroantrieben oder Dieselmotoren. Sogar die Kabelbäume produzieren sie hier selbst, was jeder Autohersteller von Zulieferern erledigen lässt.

Was ist denn nun defekt - das Getriebe der Lok oder vielleicht auch nur der Sensor?

Anderseits: Gleich im Gebäude nebenan suchen Datenanalysten nach Ereignismustern, mit denen sich das Leben einer Lok vorhersagen lässt. Das ist wichtig für Wartung und störungsfreien Betrieb. Künstliche Intelligenz für ein klassisches Industrieprodukt hat konkrete Folgen für den Alltag von Bahngesellschaften und deren Fahrgästen. Und natürlich geht es immer gleich um viel Geld.

Bleibt ein Zug überraschend unterwegs liegen, kann er, wenn es dumm läuft, die Strecke für drei bis vier Stunden blockieren. Passagiere sind unter Umständen in ihren Waggons gefangen, müssen entschädigt werden. Und so ein stehender Zug bringt jeden Fahrplan aus dem Takt. Auf der Stammstrecke der Münchner S-Bahn genüge es dafür schon, wenn ein Zug mehr als drei Minuten Verspätung hat, weiß ein Siemens-Manager, und das erleben fast jede Woche mehrmals Tausende Fahrgäste. Über Sensoren in Lokomotiven und Zügen sollen sich geringste Abweichungen vom normalen Betrieb nun frühzeitig erkennen lassen. Frühzeitig, das heißt im Idealfall, vier bis sechs Wochen bevor ein Schaden auftaucht. Gelingt das, lässt der sich nämlich noch abwenden bei den wöchentlichen Inspektionen im Bahnbetriebswerk. Bei einem Zug fallen dabei derart große Datenmengen an, dass es vor nicht langer Zeit noch zwei Wochen dauerte, um eine Woche Betrieb auszuwerten. Schon heute werden je Schienenfahrzeug jährlich über eine Milliarde Datenpunkte ausgewertet.

"Jetzt richtet sich die Instandhaltung nach den Einsatzplänen."

Ein Dutzend Datenspezialisten ist in Allach auf der Suche nach Mustern, die sich aus den Sensormeldungen ablesen lassen. Das ist nicht ganz trivial. Was löst eine Störung bei den Aggregaten aus, die vor- oder nachgelagert sind? Welche Rolle spielen Temperaturen, der Bremsdruck, die Beladung, eventuelle Vibrationen? Oft mehr als hundert Parameter gehen in acht Rechenmodelle ein, die eine Prognose für die kommenden vier Wochen ermöglichen sollen.

Die Sache ist also komplex. Und mitunter stößt die Sensortechnik noch an Grenzen. So ein Fühler hält bislang nur ungefähr genauso lange wie das Getriebe einer Lokomotive - das kann zu falschen Schlüssen führen. Die Datenanalysten sollten daher nicht nur viel von statistischen Verfahren wissen, sie müssen auch etwas vom Funktionieren der Maschinen verstehen.

Bereits im Einsatz ist die Auswertung von Daten mithilfe künstlicher Intelligenz bei der West Coast Mainline London. Mit Sensoren überwacht werden nicht nur der Antrieb, sondern auch andere Funktionen, ohne die ein Zugverkehr mit Passagieren nicht möglich ist. Abweichungen vom normalen Ablauf beim Öffnen und Schließen der Türen werden frühzeitig signalisiert. Blockiert ein eiliger Fahrgast die schließende Tür, wird dies als eine besondere Art der Störung erkannt, die normalerweise keine Reparatur erfordert. Bei den Gleisanlagen holt man die Daten nicht bei jeder Weiche ab, sondern nutzt die Stellwerke, in denen die Informationen ja bereits zusammenlaufen.

Die mit künstlicher Intelligenz aufgerüsteten Eisenbahnen sind nahezu immer betriebsbereit, bei den 50 Siemens-Projekten in aller Welt schwankt die Verfügbarkeit zwischen 98 Prozent in Bratislava und 100 Prozent bei der Stadtbahn in Bangkok. Der Anspruch der Siemens-Techniker ist hundert Prozent "Railability".

Die genaue Verfügbarkeit wird mit den Kunden vertraglich vereinbart. Die Wartung findet dann während der nächtlichen Betriebspause statt, die mitunter gerade einmal zweieinhalb Stunden lang ist, oder aber auch wie in Bangkok am frühen Samstagvormittag. Lange war es im Eisenbahnbetrieb üblich, bis zu 15 Prozent der Fahrzeuge als Reserve bereitzuhalten, eine teure Lösung. Der Leiter von Siemens Mobility Services beschreibt den Wandel so: "Früher mussten sich Einsatzpläne nach der Instandhaltung richten. Jetzt richtet sich die Instandhaltung nach Einsatzplänen."

Sensoren und Datenanalyse müssen die Kosten um mindestens zehn Prozent senken, damit sie für eine Bahngesellschaft in Betracht kommen. Siemens ist in Großbritannien bei der Erneuerung der vielen maroden Regionalzüge gut im Geschäft. Wichtige Märkte für den Konzern sind im Bahngeschäft auch Finnland, Russland und China. Zu den Kunden zählen zunehmend auch Leasing-Unternehmen, wie etwa in Europa MRCE. Die Verträge sichern den Betrieb teilweise über Jahrzehnte und sind ein wichtiges Argument beim Verkauf der Bahnen. "Geplante, aber auch unplanmäßige Ausfallzeiten müssen mit höchster Vorhersagbarkeit organisiert werden", verlangt MRCE-Manager Rainer Beller.

Der Logistik-Professor auf dem Kantinenpodium liegt sofort über Kreuz mit dem Siemens-Manager, als der Hochschullehrer nach einem Blick auf die Fassaden des historischen Werkes spontan einen Nachholbedarf diagnostiziert. Genau den gebe es hier eben nicht, in München-Allach, dem 80 Jahre alten Werk mit seinem zukunftsgerichteten Innenleben.

© SZ vom 25.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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