Kommentar:Zurück in die Wirklichkeit

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Rote Transparente, Trillerpfeifen, Notausgaben der Zeitungen - mit den ersten Warnstreiks ist die Tarifrunde jetzt in eine entscheidende Phase gekommen.

Von Nikolaus Piper

Alle Beteiligten wissen, dass es diesmal um viel geht - nicht um viel Geld, sondern um das System der Lohnfindung in der Bundesrepublik, um die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie und den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit.

In den Betrieben breiten sich Zorn und Sorge aus; Zorn über das, was Bundesregierung und Arbeitgeber den Beschäftigten alles zumuten, Sorge wegen einer möglichen Spirale nach unten. Diese Stimmung erleichtert den Gewerkschaften die Streik-Mobilisierung: Wenn wir uns jetzt nicht wehren, was kommt dann noch alles? Und gleichzeitig fürchten Ökonomen, dass der gerade begonnene Aufschwung kaputt gestreikt werden könnte.

In dieser Tarifrunde kommt es kaum auf Entgeltprozente an, sondern auf Strukturen. Die Metall-Arbeitgeber wollen eine Öffnung der Tarifverträge erzwingen; es soll mehr Flexibilität sowohl bei den Arbeitszeiten als auch bei der Bezahlung geben.

Vereinfacht ausgedrückt: Eine Firma, die sich vor Aufträgen nicht mehr retten kann, soll die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten über die tarifliche Grenze hinaus ausdehnen dürfen, bei einem Krisenunternehmen soll Arbeitszeitverlängerung auch ohne Lohnausgleich möglich sein.

In beiden Fällen wäre nach den Arbeitgeberplänen die Zustimmung des Betriebsrats, nicht aber der Gewerkschaft notwendig. Die IG Metall will genau diese Öffnung nicht, und sie will unter allen Umständen unbezahlte Mehrarbeit verhindern. Und die Arbeitgeber wollen ihrerseits ohne Öffnungsklauseln überhaupt keinen neuen Tarifvertrag abschließen. Dabei lastet politischer Druck auf der Tarifrunde.

Verhandlungspartner gehen verloren

Sollten sich Arbeitgeber und Gewerkschaften nicht auf Öffnungsklauseln einigen, müsste die Bundesregierung eigentlich die Initiative für gesetzliche Öffnungsklauseln ergreifen. Die Erwartung hat der Bundeskanzler zumindest geweckt: Die Opposition hatte solche gesetzlichen Klauseln in den Verhandlungen mit der Regierung kurz vor Weihnachten gefordert; diese seien nicht nötig, antwortete die SPD damals, schließlich arbeiteten die Tarifparteien ja an vertraglichen Lösungen.

Mehr Flexibilität gilt als entscheidender Test für die Reformfähigkeit des deutschen Arbeitsmarkts. Die Metallarbeitgeber wollen, so sagen sie, mit ihrem Angebot das Instrument des Flächentarifvertrags retten. Das mag etwas übertrieben sein, ganz falsch ist die Arbeitskampfrhetorik nicht. Je weiter sich die Tarifverträge von der Realität in den Betrieben entfernen, desto mehr Unternehmen verlassen die Arbeitgeberverbände.

Den Gewerkschaften geht so nach und nach ihr Verhandlungspartner verloren. Wohin das führt, lässt sich in Ostdeutschland beobachten: Dort gilt für die meisten Beschäftigen der Metallindustrie keine Tarifbindung mehr. Außerdem drohen bei einem, aus Sicht der Betriebe, schlechten Abschluss die Spannungen im Arbeitgeberlager zuzunehmen.

In den Redaktionen, wo es am Donnerstag ebenfalls Warnstreiks gab, sieht die Lage etwas anders aus: Die Tageszeitungen stecken seit fast drei Jahren in der tiefsten Branchenkrise seit dem Zweiten Weltkrieg: Die Umsätze sinken, der Markt für Stellenanzeigen ist zusammengebrochen, die Zukunft des Anzeigengeschäftes insgesamt bleibt ungewiss.

In der Situation wollen die Arbeitgeber das Tariflohnniveau in den Redaktionen senken - "maßvoll", sagen sie selbst, "maßlos", sagen die Gewerkschaften. Auch in den Zeitungen geht es um die Verlängerung der Arbeitszeit, außerdem um weniger Urlaub und eine Kürzung des Urlaubsgeldes.

In einem gewissen Sinne ist diese Verhandlungsrunde für die deutschen Tarifparteien wirklich eine letzte Chance, so wie die Arbeitgeber dies darstellen. Die anhaltende Beschäftigungskrise zeigt, dass es ohne eine Korrektur von Niveau und Struktur der Tarifentgelte in Deutschland nicht geht. Das Angebot von Gesamtmetall geht das Problem auf behutsame und kluge Weise an.

Die Option auf Arbeitszeitverlängerung, bei der die Betriebsräte mitreden können, bei der aber das tatsächlich ausgezahlte Gehalt nicht sinkt, sichert Arbeitsplätze und schadet, anders als eine offene Lohnsenkung, dem Aufschwung nicht. Flexibilität ist ein positiver Faktor im Wettbewerb, es geht nicht um den befürchteten Lohnsenkungswettlauf.

Die Anpassung des Tarifsystems an die Realität bedeutet für die Gewerkschaften eine harte Prüfung. Deshalb sind seitens der Arbeitgeber vertrauensbildende Maßnahmen notwendig, wozu auch ein wenig Fingerspitzengefühl gehört.

Es ist zum Beispiel unbegreiflich, weshalb die Zeitungsverleger zur Streichung von Urlaubstagen auch noch die Verlängerung der Wochenarbeitszeit auf die Tagesordnung setzen - in einer Branche, in der die meisten Beschäftigten sowieso freiwillig und unentgeltlich ihre tarifliche Arbeitszeit weit überschreiten.

Am wesentlichen Befund ändert das nichts: Die Warnstreiks sind schädlich für die Beschäftigten, ein harter Arbeitskampf in diesem Frühjahr wäre verheerend. Letztlich haben es IG Metall und Verdi in der Hand, ob der deutsche Arbeitsmarkt mit oder ohne Tarifverträge reformiert wird.

© SZ vom 30.01.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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