Kommentar:Zu Hause investieren!

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Die Wachstumszahlen täuschen. Sie belegen eher die schleichende ökonomische Misere als den Erfolg der Politik. Investitionen in Bildung und Forschung sind geboten. Sie bestimmen, wohin sich die Gesellschaft entwickelt.

Von Cerstin Gammelin

Deutschlands Wirtschaft ist im ersten Quartal doppelt so stark gewachsen wie prognostiziert und hat Euro-Land mitgezogen. Das wirkt zunächst wie eine Bestätigung der aktuellen Wirtschaftspolitik: Seht, es geht wieder und weiter aufwärts. Doch so ist es nicht. Eingebettet in soziale, politische und ökologische Entwicklungen und den weltwirtschaftlichen Kontext erscheinen die neuen Zahlen eher als ein Beleg für eine schleichende ökonomische Misere mit unabsehbaren gesellschaftlichen Folgen.

Wohlstand entsteht naturgemäß immer dort, wo Kapital und Wissen sich ansammeln und verstärken. Wer Geld zur Verfügung hat, denkt nach, forscht, entwickelt und lässt Produkte entstehen, die sich anschließend gut verkaufen. Der Staat schafft die Rahmenbedingungen, und investiert ebenfalls, etwa in Bildung, Forschung und in den Arbeitsmarkt. Investitionen von Staat und Unternehmen sind die treibenden Momente gesellschaftlicher Entwicklungen. Die Wachstumszahlen allerdings zeigen, dass hier etwas aus dem Lot geraten ist.

Obwohl Kapital schon lange nicht mehr so locker saß und beinahe im Überfluss vorhanden ist, stagnieren die Investitionen. Vor der Finanzkrise 2008 investierten die sieben größten westlichen Volkswirtschaften (G 7) reichlich drei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung. Damit ist seitdem Schluss, und das trotz bester Voraussetzungen. Der Ölpreis pendelt auf Tiefstpreisen, die Zinsen verharren nahe null, der Euro ist schwach und macht Produkte aus Europa preiswert.

Die als Wirtschaftslokomotive der Euro-Zone bejubelte Bundesrepublik macht da keine Ausnahme. Auch in Deutschland stagnieren die Investitionen. Unternehmen halten sich zurück, sie exportieren noch immer deutlich lieber ins Ausland, als ihr Geld daheim anzulegen. Die Konjunktur ist getrieben vom Geld der Bürger, die so heftig konsumieren wie seit Jahren nicht, und von einem staatlichen Investitionsprogramm, das den Superlativ gigantisch tatsächlich verdient: Bis 2020 sollen fast 100 Milliarden Euro in die Bewältigung von Migration und Integration gesteckt werden. Von der Sicherung der EU-Grenze bis zum Dolmetscher übernimmt der Staat die Kosten. Um es klar zu sagen: Diese Investitionen sind schon aus gesellschaftlicher und sozialer Perspektive unbedingt nötig und richtig. Andererseits lösen sie nicht das Rätsel, vor dem die Staatenlenker der G 7 und Europas stehen: Wie ist der erlahmten (westlichen) Wirtschaftswelt auf die Sprünge zu helfen?

Der politische Willensakt lässt auf sich warten. Es hilft nicht weiter, nur auf die weltweiten Umbrüche zu verweisen, auch wenn die internationale Lage tatsächlich für Verunsicherung sorgt. Die Sanktionen gegenüber Russland haben dazu geführt, dass sich Moskau in Richtung Osten orientiert - viele europäische Investitionen sind gestrichen. Niemand kann vorhersagen, wie es mit Russland als Wirtschaftspartner weitergeht. Oder mit China. Die mittlerweile rechnerisch größte Volkswirtschaft weltweit ist mitten im Umbruch vom Schwellenland hin zu einem Industrieland. Zweistellige Wachstumsraten sind Vergangenheit. Verzogen hat sich auch die Gewissheit, dass Globalisierung unumkehrbar sein könnte. US-Präsidentschaftsbewerber Donald Trump will den Weg zurückgehen, sollte er an die Macht kommen. Dazu passt, dass Freihandelsabkommen nicht mehr en vogue sind. Und nicht zuletzt ist es die Digitalisierung, die eine Branche nach der anderen schüttelt.

Investitionen in Bildung und Forschung bestimmen, wohin sich diese Gesellschaft entwickelt

In Deutschland hat sie das Rückgrat der Volkswirtschaft, die Automobilbranche erfasst. Befeuert durch den Betrugsskandal beim Autohersteller Volkswagen scheint es plötzlich vorstellbar, dass die lange geförderte Dieseltechnologie, der Stolz deutscher Ingenieure, zum Auslaufmodell gerät und die Autos der Zukunft in Kalifornien gebaut werden. Bei den aktuellen Wachstumszahlen ist der Umsatzeinbruch bei Volkswagen schon spürbar, heimischer Konsum und Staatsausgaben gleichen aus. Aber künftig?

Gedreht ins Positive ist diese Krise als dringliche Aufforderung an Politik und Wirtschaft zu lesen, statt Altes zu bewahren endlich Neues zu wagen, vor allem im eigenen Land: in moderne ökologische Autos zu investieren. Die schon zigmal beschlossenen Milliarden Euro in Klimaschutz zu investieren. Bildung und Forschung zu forcieren. Es werden die Investitionen sein, die darüber bestimmen, wohin sich unsere Gesellschaft entwickelt.

© SZ vom 17.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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