Kommentar:Zahlen-Akrobatik

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Peking feiert sich: Die Wirtschaftsleistung stieg von April bis Juni um satte 11,5 Prozent, gemessen am Vorquartal. Aber stimmt das überhaupt?

Von Christoph Giesen

Es sind Zahlen, die Hoffnung geben sollen, vor allem aber sind sie ein Signal an den Rest der Welt: Während die Vereinigten Staaten immer stärker unter Corona leiden, ist in China die Krise überstanden. Die Wirtschaft der Volksrepublik wächst wieder, und zwar gehörig: Um 3,2 Prozent, vermeldet das Pekinger Statistikamt, soll das chinesische Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal im Vergleich zum Vorjahreszeitraum zugelegt haben - nach einem Einbruch in den ersten drei Monaten des Jahres. Gemessen am Vorquartal stieg die Wirtschaftsleistung von April bis Juni um satte 11,5 Prozent. Die Propaganda feiert erwartungsgemäß: "China führt die wirtschaftliche Erholung aus der Pandemie an", titeln die Staatszeitungen. Doch stimmt das? Wie aussagekräftig ist das Zahlenwerk überhaupt? Es bleiben leider mehr Fragen als Antworten. Auffallend ist, dass die chinesische Volkswirtschaft trotz Rekordarbeitslosigkeit gewachsen sein soll. Offiziell liegt die Arbeitslosenquote bei sechs Prozent. Vor dem Ausbruch des Virus waren es 5,5 Prozent. Die etablierte Zählweise ist jedoch nicht sonderlich akkurat: Erfasst werden nur sozialversicherungspflichtige Jobs und Wanderarbeiter in den großen Städten. Wer aber seine Beschäftigung verloren hat und zurück aufs Land gezogen ist, erscheint nicht in der Statistik.

Kaum war die Studie auf dem Markt, wurde sie auch schon wieder zurückgezogen

Ende April veröffentlichte eine Analysefirma aus Shandong eine Hochrechnung, die für Furore sorgte: 70 Millionen Chinesen haben demnach ihren Arbeitsplatz durch das Virus eingebüßt, auf 20,5 Prozent taxierten die Ökonomen die tatsächliche Arbeitslosenquote. Kaum war die Studie auf dem Markt, wurde sie auch schon zurückgezogen, offenbar auf Druck der Behörden: Arbeitslosigkeit und der Sozialismus chinesischer Prägung, das passt nicht zusammen. Inzwischen sind mehrere Untersuchungen erschienen, die die Annahmen der Analysten aus Shandong stützen.

Selbst Ministerpräsident Li Keqiang scheint den staatseigenen Statistikern nicht immer zu trauen. 2007, als er noch Parteichef der an Nordkorea grenzenden Provinz Liaoning war, erklärte er einmal amerikanischen Diplomaten, dass er statt auf das Bruttoinlandsprodukt auf drei andere Indikatoren schaue: den Energieverbrauch, die Kreditvergaben und die Eisenbahnfrachttonnen. Als Wikileaks Ende 2010 die US-Depeschen veröffentlichten, kam das heraus. Der Economist widmet Premier Li seitdem einen eigenen Keqiang-Index.

Als 2008, nach der Finanzkrise, die Weltwirtschaft das letzte Mal aus dem Takt geriet, intervenierte die chinesische Regierung mit einem Infrastrukturprogramm: Schnellbahntrassen wurden gebaut, neue U-Bahn-Tunnel gegraben und Flugplätze errichtet, die Verschuldung stieg seitdem rasant. In diesem Jahr hat sich die Führung in Peking eher zurückgehalten: ein paar Steuererleichterungen, Senkung der Kreditzinsen sowie der Mindestreserveanforderungen der Banken, aber keine Konjunkturgewalttaten wie in Europa. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass vor allem Staatskonzerne die Treiber des neuen Wachstums sind. Die Autobranche frohlockt bereits, dass die Absatzzahlen trotz Corona über dem Plansoll liegen - ein guter Indikator ist der Automarkt jedoch nicht. Die Furcht vor dem Virus hat viele Familien dazu bewogen, ein neues Auto anzuschaffen, besser im eigenen Wagen zu fahren, statt im Bus oder der U-Bahn eine Ansteckung zu riskieren. Es sind allerdings häufig vorgezogene Investitionen: Wer heute ein Auto kauft, fährt es auch im kommenden Jahr. Danach könnte sich ein Post-Corona-Effekt in den Bilanzen bemerkbar machen. In den meisten anderen Branchen wird mindestens genauso wild produziert, doch: Wer soll das alles irgendwann einmal kaufen? Der Export schwächelt, die Nachfrage in Europa und den coronageplagten USA ist zurückgegangen, zudem erschweren die amerikanischen Strafzölle den Außenhandel.

Der Dienstleistungssektor ist in China weit von der Normalität entfernt. Kinos haben noch immer geschlossen, Restaurants werden kaum besucht. Und wer fährt schon in den Urlaub? Bis vor ein paar Monaten war der Pekinger Flughafen noch der zweitgrößte der Welt. Mehr als 100 Millionen Passagiere wurden hier jedes Jahr abgefertigt. Schaut man heute auf die Abflugtafeln, wird an den meisten Tagen nicht mehr als ein internationaler Flug angezeigt. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Aus Furcht vor einem Reimport des Virus hat die Regierung die Grenzen der Volksrepublik fast lückenlos dichtgemacht. China ist abgekoppelt vom Rest der Welt. Für die Wirtschaft ist das katastrophal.

© SZ vom 20.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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