Kommentar:Sehnsucht nach Sicherheit

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Manche Globalisierungsgegner glauben, in Davos werde einmal im Jahr über das Schicksal der Welt entschieden. Das ist Unfug.

von Nikolaus Piper

Das Weltwirtschaftsforum ist kein "Gipfel", eher ähnelt die Veranstaltung einem Klassentreffen von, zugegeben, sehr reichen und teilweise mächtigen Leuten. Was den Gründer des Forums, Klaus Schwab, allerdings auszeichnet, ist ein untrügliches Gespür für die richtigen Themen, den richtigen Zeitpunkt und die richtige Inszenierung.

Klaus Schwab "verbietet" Krawatten im Kongresszentrum - und schon tragen die Medien seine Botschaft in die Welt: Davos ist locker und menschlich. Wichtiger aber war, im dritten Jahr nach dem 11. September 2001 das Thema Sicherheit auf die Tagesordnung zu setzen. Wobei Sicherheit weit mehr bedeutet als lediglich der Schutz vor Terroranschlägen.

Ungefähr die Hälfte der Menschen auf der Welt fürchtet, in Zukunft weniger sicher leben zu müssen als heute. Das ergab eine Meinungsumfrage des Forums.

Man kann über Details dieser Umfrage streiten, nicht jedoch über die Grundaussage: Die Menschen sind tief verunsichert, wobei der Pessimismus nirgends so verbreitet ist wie in Westeuropa.

Fast zwei Drittel aller Europäer glauben, dass ihre Kinder weniger gesichert leben werden als sie selbst; in Nordamerika sind es nur 47 Prozent. Und das, obwohl die Europäer viel weniger Angst vor Terroristen und Schurkenstaaten haben müssten als die Amerikaner.

In den Zahlen spiegelt sich die Krise der europäischen Sozialstaaten, das Gefühl der Bürger, dass sie sich den heutigen Wohlstand bald nicht mehr leisten können.

Die Debatte um die Reform der Sozialsysteme bekommt ihre eigentliche Dramatik durch die berechtigte Sehnsucht der Menschen nach Sicherheit und die wachsende Angst vor einer ungesicherten Zukunft. Das ist besonders unter den Deutschen so, die aufgrund ihrer Geschichte ausgesprochen sicherheitsbewusst sind, und deren soziales Sicherungssystem Ergebnis dieser Geschichte ist.

Sicherheit ist ein selbstverständliches Grundbedürfnis der Menschen: Schutz von Leben, Gesundheit und Eigentum, die Abwehr von Aggression, die Vorsorge gegen Risiken. Doch das Bedürfnis ist extrem unterschiedlich ausgeprägt. Die Risiken, die der eine fürchtet, nimmt der andere gar nicht wahr.

Schutz, Abwehr, Vorsorge

Das ist eine hochpolitische Angelegenheit: In den Vereinigten Staaten stehen seit den Terroranschlägen von New York und Washington innere und äußere Sicherheit über allem.

Der Krieg gegen den Terror hat zu Sicherheitsmaßnahmen an den Grenzen Amerikas und im Lande selbst geführt, die Außenstehenden oft grotesk erscheinen. Wer als Bürger eines als kritisch eingestuften Staates in New York landet, der muss immer fürchten, zunächst einmal als potenzieller Verbrecher behandelt zu werden.

Was den Amerikanern die militärische, das ist den Europäern die soziale Sicherheit. Und entsprechend erscheint Amerikanern die Hartnäckigkeit grotesk, mit der die Deutschen an bestimmten Regulierungen etwa am Arbeitsmarkt festhalten.

Allgemeiner ausgedrückt: Militärische und innere Sicherheit sind "rechte" Themen, soziale Sicherheit ist ein "linkes".

Neu ist, dass sowohl die "linke" als auch die "rechte" Sicherheit durch unterschiedlichste Phänomene bedroht scheinen, durch Phänomene, für die man sich den problematischen Begriff "Globalisierung" angewöhnt hat: technischer Fortschritte, radikal verbesserte Kommunikation, offene Grenzen, Verschiebung der ökonomischen Gewichte in der Welt, Einwanderung, Begegnung mit fremden Kulturen.

Das Gefühl der Bedrohung ist nachzuvollziehen angesichts des schnellen Wandels in der Welt. Und doch kann genau dieses Gefühl zur eigentlichen Bedrohung von Freiheit und Wohlstand werden.

Schon in den Zeiten des Kalten Krieges wusste man, dass absolute Sicherheit eine "tödliche Utopie" ist. Jeder Polizeiexperte warnt vor der Vorstellung, es könne den absoluten Schutz vor Verbrechen geben. Heute greift die Regierung in Washington beim Krieg gegen den Terror massiv in die Bürgerrechte ein. Gefangene werden in Guantanamo unter fragwürdigen Bedingungen festgehalten.

Das Sicherheitsstreben birgt im Übrigen auch ökonomische Risiken: Der Außenhandel wird teurer, die Ausgaben für Militär und innere Sicherheit sprengen den Staatshaushalt. Das Problem haben die Amerikaner selbst mit einem schönen Wortspiel umschrieben: Früher galt die Devise "just in time," heute heißt es "just in case". Auf deutsch: Früher wusste man, dass Zeit Geld ist, heute sichert man sich gegen alle Eventualitäten ab - egal, was es kostet.

Wie viel Risiko darf es sein?

Die Risiken des amerikanischen Sicherheitsstrebens sind den Europäern und besonders den Deutschen sehr bewusst, sie spielen eine große Rolle in der allgemeinen Amerika-Kritik. Weniger präsent sind auf dieser Seite des Atlantiks die Risiken des eigenen Strebens nach sozialer Sicherheit.

Hier mag der amerikanische Blick von außen auf die europäischen Probleme helfen. Viele Amerikaner nehmen die deutsche Wirtschaft als eine große Ansammlung von Vorschriften wahr. Überall sagt einem jemand, was man alles nicht darf.

Die Sichtweise mag verzerrt sein, aber dass die Utopie der absoluten sozialen Sicherheit gefährlich ist, das merken die Deutschen inzwischen auch selbst, und wenn es nur auf dem Umweg über den Geldbeutel ist. Wer umfassende soziale Sicherung verspricht, der wird unglaubwürdig, weil dies niemand mehr bezahlen kann.

Wer aber nur aufs Geld blickt, der übersieht leicht das Wesentliche. Die deutsche Gesundheitsreform senkt ein wenig die Kosten der Krankenkassen, aber sie macht das System nicht wirklich zukunftsfähig. Die Bürger fühlen sich genauso ungesichert wie zuvor, nur müssen sie jetzt noch mehr dafür bezahlen - kein Wunder, dass sie wütend werden.

Die Zukunft ist offen, sie birgt Chancen und Risiken. Konzentriert man sich nur auf die heute absehbaren Risiken, dann wird man zu unbeweglich, um auf neue Gefahren reagieren zu können.

Und man beschneidet die Chancen, die in der Zukunft liegen. Konkret: Achtet man nur darauf, dass die heutigen Rentner sozial gerecht behandelt werden, dann werden die Kinder Opfer des demographischen Wandels und man vergibt die Möglichkeiten, die etwa eine kapitalgedeckte Altersvorsorge für das Wachstum der deutschen Wirtschaft bietet.

Der Zusammenhang lässt sich an vielen anderen Beispielen illustrieren: Einwanderung birgt Risiken. Wollte eine Regierung die Risiken aber ausschließen, müsste sie Immigration ganz unterbinden. Dann würde sie die Chancen abschneiden, die Immigranten für die eigene Volkswirtschaft bieten; das Land wäre irgendwann auch für die Einheimischen nicht mehr sehr wohnlich.

Die Ideale Sicherheit, Freiheit und Wohlstand bedingen einander - sie können sich aber auch gegenseitig gefährden. Die Deutschen müssen deshalb ihr eigenes Konzept der sozialen Sicherheit überprüfen, wenn sie Freiheit und Wohlstand sichern wollen.

© SZ vom 24.01.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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