Kommentar:Koalition der Ignoranten

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(Foto: Schifferdecker)

Was ist nur los mit der Debatte um die Sozialpolitik? Seit Jahren fristet sie ein Nischen-Dasein, und die Koalition lächelt alles weg. Dabei gäbe es so viel zu besprechen.

Von Guido Bohsem

Was ist nur mit der Debatte über die Sozialpolitik los? Seit Jahren fristet sie ein Nischendasein. Dramatische Änderungen wie die Reform der Krankenhäuser oder der Pflege werden längst nicht mehr so ausführlich diskutiert, wie sie es verdienen. Auch die geplante Angleichung der Ost-West-Renten findet nicht die verdiente Aufmerksamkeit, obwohl sie das Leben von zehn Millionen Deutschen verändern wird. Vorbei die Zeit, in denen in Talkshows regelmäßig auch über sperrige Themen diskutiert wurde, wie die Renten-Formel oder den Gesundheitsfonds. Dabei ist nach wie vor notwendig, über diese Themen gründlich nachzudenken. Nur so lässt sich die Zukunft gewinnen.

Die Digitalisierung schreitet voran. Der demografische Wandel hängt wie ein Damoklesschwert über dem Land. Nur noch 16 Jahre vergehen, bis die Babyboomer in Rente gehen, die derzeit den größten Teil der Arbeitnehmer stellen. An einer ausreichenden Vorsorge für diese Zeit fehlt es. Im Gegenteil, die gute Ausgangslage nach den rot-grünen Reformen wurde verschlechtert, siehe die Einführung der Mütterrente oder das Abschaffen der Praxisgebühr.

Das Fehlen einer sozialpolitischen Diskussion hat vier wesentliche Ursachen, eine historische und drei aktuelle. Historisch geht es um etwas, das man unter "Die Rückkehr der Außenpolitik" fassen kann. Nach der Wiedervereinigung erlebte Deutschland eine Zeit der Introspektion. Die Außenpolitik forderte die neue Republik wenig - wenn man vom Balkan-Krieg absieht, der aber ohne große innenpolitische Konsequenzen blieb. Heute muss man diese Zeit als Ausnahme betrachten, denn die außenpolitischen Herausforderungen sind ungleich größer. Terrorismus, die Instabilität in Nordafrika, die Flüchtlingsfrage - all das dominiert die politische Auseinandersetzung und beschäftigt ihre Akteure deutlich stärker als noch vor fünfzehn Jahren. Für Sozialpolitik bleibt wenig Zeit.

Gröhe und Nahles, ehemalige Generalsekretäre, scheuen unbequeme Entscheidungen

Doch auch die aktuelle politische Konstellation verhindert eine große Debatte über die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme. Durch das Bündnis der großen Parteien fehlt in der Opposition der nötige Resonanzboden, auf dem Kritik von Verbänden und Interessensgruppen verstärkt werden kann. Berechtigte Kritik verpufft wirkungslos - zumal sich im Unterschied zur ersten großen Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel die ideologischen Unterschiede zwischen Union und SPD abgeschliffen haben.

Zudem setzen die handelnden Personen, Gesundheitsminister Hermann Gröhe und Sozialministerin Andrea Nahles, auf Konsens statt auf Konflikt. Sie lösen Konflikte häufig auf Kosten des besseren Weges in der Sozialpolitik, auch weil sie als ehemalige Generalsekretäre ihrer Parteien wissen, dass unbequeme Entscheidungen Wählerstimmen kosten. Die Politik kann sich das ja auch bequem leisten, weil der Wirtschaftsboom der vergangenen Jahre zum Laissez-faire in der Sozialpolitik verführt. Die großartige Lage am Arbeitsmarkt sorgt dafür, dass die Sozialkassen derzeit üppig mit Beitragsgeldern ausgestattet sind. So müssen die Interessensgruppen keine Kürzungen fürchten. Im Gegenteil, sie können sich darauf verlassen, dass ihre Anliegen von der Politik bedient werden. Die für Debatten notwendige Reibung entsteht so erst gar nicht.

Obwohl das alles also gut erklärt werden kann, ist der aktuelle Kurs nicht vernünftig. Die Gelegenheit, die gute Konjunktur zur Vorsorge zu nutzen, wird leichtfertig vertan. Die Sozialpolitik muss wieder stärker in das Zentrum der Politik rücken - sonst bleiben am Ende nur harte Einschnitte übrig.

© SZ vom 30.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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