Kommentar:Historischer Irrtum

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CDU, CSU und SPD vermessen die Haushaltspolitik weiter in den nationalen Idealmaßen. Keine Schulden plus Stabilitäts­kriterien reichen dem Kabinett von Kanzlerin Merkel als Beleg dafür, die Weichen für die Zukunft gestellt zu haben. Ein Irrtum.

Von Cerstin Gammelin

Kann eine Bundesregierung, die die weltweit viertgrößte Wirtschaftsmacht hinter sich weiß, so kurzsichtig sein? Wenn die große Koalition an diesem Freitag im Bundestag den Bundeshaushalt für 2020 und die Finanzplanung bis 2023 verabschiedet, wird das zwar ein Rekordetat, zugleich aber ein schlichtes "Weiter so" sein. CDU, CSU und SPD vermessen die Haushaltspolitik weiter in den nationalen Idealmaßen 0 - 3 - 60. Keine Schulden plus europäische Stabilitätskriterien reichen dem vierten Kabinett von Kanzlerin Angela Merkel als Beleg dafür, die Weichen für die Zukunft gestellt zu haben. Was für ein Irrtum.

Die Bundesregierung hat in ihrer Haushaltsplanung zwei entscheidende Fehler gemacht. Sie denkt zu stark in nationalen Grenzen. Und sie verkennt, dass die Bundesrepublik am Anfang eines riesigen Strukturwandels steht, der gestaltet werden muss, um gesellschaftlichen Zusammenhalt, Wohlstand und Demokratie zu sichern. Die Digitalisierung und die Abkehr von der kohlenstoffintensiven Lebens-, Arbeits- und Wirtschaftswelt sind Herausforderungen, die nur durch langfristig angelegte und mutige Regierungsarbeit sowie europäische Kooperation bewältigt werden können.

Es häufen sich die Meldungen, dass Unternehmen massenhaft Beschäftigte entlassen

Genau hier legen die Merkel-Kabinette seit Jahren Fehlleistungen hin. Ein Blick in die jüngere Vergangenheit lässt das Ausmaß erahnen. Als sich die Deutschen im Jahr 2009, damals regierte das zweite Kabinett von Angela Merkel, mit sichtlichem Stolz in grundgesetzlich fest verankerte Ausgabenfesseln legten, nahm anderswo die digitale Revolution an Fahrt auf. Das iPhone, das jedermann das Internet per Fingerabdruck ins Haus brachte, feierte den zweiten Geburtstag. Inzwischen ist die elfte Generation entwickelt; die digitale Revolution krempelt auch in Europa und der Bundesrepublik traditionsreiche Unternehmen, das Wirtschaftsleben und den Alltag der Bürger um.

Es häufen sich die Meldungen, dass Unternehmen massenhaft Beschäftigte entlassen: Banken, Autoindustrie, Mittelständler, klassische Medien. Ganze Einkaufszentren in Kleinstädten schließen. Die Unternehmen tun das, weil ihnen die alten Geschäftsmodelle wegbrechen, weil die Kunden andere Produkte haben wollen. Solche, die digital sind. Solche, die umweltfreundlich sind. Aber wer weiß heute genau, welche Produkte das sein werden? Kaum jemand. Kein Wunder also, dass etwa Autokonzerne jetzt gleichzeitig traditionelle Fahrzeuge weiterbauen müssen, um sich zu finanzieren. Und gleichzeitig experimentieren müssen, um die Mobilität von morgen vorwegzunehmen. Garantie auf Erfolg gibt es nicht. Ja, es kann sich auch als Fehler erweisen, jetzt nur noch auf Elektroantrieb zu setzen. Und: so doppelgleisig agieren viele Branchen.

Es liegt auf der Hand, dass Bundesregierung so dringend wie selten zuvor gefordert ist, diesen disruptiven Wandel langfristig zu begleiten. Und das heißt konkret, dass es nicht reicht, nur die üblichen Investitionsgelder ins Schaufenster zu legen, wissend, dass sie kaum genutzt werden. Statt kleckern ist klotzen angesagt.

Die Bundesregierung muss so viele Milliarden Euro in die Hand nehmen, wie nötig ist, um Forschung und Entwicklung voranzutreiben; um heute noch undenkbare Produkte zu entwickeln wie es einst das iPhone war. Sie muss beherzt europäische Projekte wie die europäische Cloud mitfinanzieren; warum soll man eigentlich bei US-Giganten suchen, wenn man örtliche Busverbindungen braucht? Schulen, Universitäten und Unternehmen müssen wissen, welche Qualifikationen gefragt sein werden. In fünf, zehn Jahren werden Arbeitskräfte gebraucht, die ganz andere Berufe haben als heute. Es müsste ein Aufbruchsignal sein, das die große Koalition jetzt ins Land sendet.

Sie tut es aber nicht. Sondern erweckt den Anschein, als regiere sie eine Insel. Das Kabinett Merkel IV hegt und pflegt die schwarze Null; die CDU schickt gar das Bildchen einer Null mit Hütchen durchs Netz. Dass das Wirtschaftswachstum um den Nullpunkt pendelt, wird als Wachstumsdelle verniedlicht; die kann man ausbeulen, sobald sich die streitenden Weltmächte USA und China geeinigt haben.

Das Gebaren erinnert an Thomas de Maizière, der einst Informationen zur Terrorgefahr mit dem Hinweis verweigerte, "ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern". Das war damals so falsch wie es heute ist. Die Bürger gehören aufgeklärt und unterstützt. Nur so kann es gelingen, dass sie den Wandel nicht als schicksalhaften Umbruch verdammen, sondern aktiv angehen. Das ist schwer, aber unumgänglich, damit die Gesellschaft trotz allem zusammenhält.

© SZ vom 29.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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