Kommentar:Europas Identitätskrise

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Europa lauert überall, jeden Tag. Wer es nicht glaubt will, der möge jenes Mosaik betrachten, das sich aus den Bildern dieser Tage zusammen legen lässt.

Von Christian Wernicke

Es bietet sich dar eine Europäische Union der Widersprüche: Eine allmächtige Zentralgewalt zu Brüssel, die sich in alles einmischt - und zugleich eine diffuse, immer größer werdende Ansammlung von Staaten, die ohne inneren Halt oder äußere Grenzen vor sich hinwabert.

Eine klare Antwort auf die Frage, wohin dieses Gebilde namens EU treibt, weiß niemand zu Beginn dieses ach so europäischen Jahres 2004 zu geben.

Am heftigsten zucken zur Zeit die nationaler Reflexe. Dass die Eurokraten sich erdreisten, auch nur darüber nachzudenken, deutschen Autos oder bayerischem Bier anstelle des Gütesiegels "Made in Germany" demnächst ein Massen-Logo der EU aufzupressen, schürt neues Feuer gegen Brüssel.

Wie deutsch oder französisch, britisch oder dänisch?

Denn dieses (noch äußerst vage) Vorhaben berührt weit mehr als nur die Sorgen von Marketingstrategen um ein weltweit etabliertes Markenzeichen: Hier offenbart sich mehr als in jeder akademische Debatte über die angeblich heranwachsende "europäische Identität", wie national - also wie deutsch oder französisch, britisch oder dänisch - sich die EU-Bürger auch nach Jahrzehnten kontinentaler Integration noch immer fühlen.

Im Ergebnis bedeutet dies: Auf absehbare Zeit darf es nicht mehr geben als ein gedoppeltes Emblem, das gleichermaßen die nationale wie die EU-Herkunft jedweden Käses oder Computer-Chips anzeigt.

Europa fühlt, ja: ist schlicht so kompliziert und klobig, wie es der Schrägstrich einer solchen Herkunftsbezeichnung "Made in Germany / European Union" symbolisieren würde. Ein Hybrid eben.

Um diese sensible Balance zwischen Nation und Europa dreht sich auch der zweite Konflikt, der seit Wochen Schlagzeilen provoziert. Doch Vorsicht: Dass die Brüsseler Kommission nun vor den europäischen Kadi in Luxemburg zieht und den gesamten Rat der EU-Finanzminister des Rechtsbruch zeiht, ist weit mehr als nur ein juristischer Racheakt für ihre politische Niederlage im Streit um den Stabilitätspakt.

Gedehnte Regeln

Die Defizitsünder Deutschland und Frankreich entkamen im November vorigen Jahres nur deshalb einem Strafverfahren, weil eine Mehrheit der versammelten Minister streng vereinbarte Regeln sehr phantasievoll dehnte - oder eben brach.

Denn eigentlich hätte es für den Freibrief, den Hans Eichel und sein Kollege Francis Mer damals stolz nach Hause trugen, einer neuerlichen Beschlussvorlage der Kommission bedurft.

Genau die aber gab es nicht, weshalb nun eine Schlüsselfrage der EU-Integration im Gerichtssaal ausgefochten wird: Dürfen die Nationen einen Teil jener Souveränität, die sie einst für den Gedeih und Verderb des Euros an Brüssel abtraten, notfalls wieder einkassieren?

Was wie ein Zank um Paragrafen anmutet, rührt an den Grundfesten der Union. Der Streit um die Schuldentreiberei der beiden mächtigsten Mitgliedstaaten lässt sich in eine Formel kleiden, wie sie ähnlich der deutsche Kanzler während des Irak-Kriegs auf die USA münzte: Gilt das Recht des Stärkeren - oder die Stärke des Rechts?

Zentrifugale Kräfte

Denn zumindest im rauen Polit-Alltag von Brüssel ist es eine Tatsache: Mehr als diese schrecklich spröde "Identität" einer Rechtsgemeinschaft hat Europa kaum aufzubieten gegen die zentrifugalen Kräfte seiner 15, schon bald 25 Regierungen und Völker.

Sobald das Recht als Anker ins Leere greift, vermag keine noch so schöne Sonntagsrede über Krieg und Frieden oder das kollektive Schicksal des Kontinents zu verhindern, dass diese EU ins Ungewisse abdriftet.

Alle Regenten wissen das. Eben deshalb haben die Staats- und Regierungschefs doch bei ihrem Gipfeltreffen im Dezember so zäh wie vergeblich um die Details einer EU-Verfassung gerungen.

Ob Schröder und Chirac, ob Blair, Aznar oder Miller - sie alle erkennen längst an, dass "Brüssel" eine neue, bessere Machtordnung braucht. Ein Regelwerk also, das den demnächst 450 Millionen EU-Bürgern klarer und einfacher sagt, wie dieser Quasi-Staat funktioniert. Ein Grundgesetz, das Mittel und Wege zeigt, wie sie sich einmischen können in ein Europa, das ihnen immer größer und unheimlicher wird.

Doppelter Sinn der Vertiefung

So gewinnt das Wort von der "Vertiefung" Europas seinen doppelten Sinn. Es handelt sich, einerseits, um das dringend benötigten Gegenstück zur anstehenden Erweiterung um zehn Staaten am 1.Mai.

Andererseits aber liefert die Verfassung eine sinnfälligere, eben tiefere Begründung dafür, was Europa eigentlich soll und will. Und darüber, was Brüssel darf oder eben lassen soll.

Nur mit einer solchen Vertiefung lässt sich der nötige Halt schaffen, auf dass die Menschen mittragen, was Berlin und London, Paris wie Brüssel längst aushecken: Die noch weitere Erweiterung um Kroatien, ja den gesamten westlichen Balkan - und die riesige Türkei.

Hier, nicht im Streit um ein lästiges EU-Logo, entscheidet sich die Identität Europas: Die bisher blockierte Verfassung und die geplante Aufnahme der Türkei bestimmen die inneren wie äußeren Grenzen der EU. Nur wer auch im Wahlkampf für das Straßburger Parlament darüber redet, meint es letztlich ernst - mit Europa wie mit seiner eigenen Nation.

© SZ vom 13.01.04 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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