Kolumne: China Valley:Der Bauern-Kanal

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An dieser Stelle schreiben jeden Mittwoch Christoph Giesen (Peking), Marc Beise (München), Karoline Meta Beisel (Brüssel), Helmut Martin-Jung (München) und Jürgen Schmieder (Los Angeles) im Wechsel. Illustration: Bernd Schifferdecker (Foto: N/A)

Der chinesische Kurzvideo-Markt ist umkämpft. In den Städten dominiert der Tiktok-Konzern Bytedance, auf dem Land Kuaishuo. Gerungen wird mit allen Mitteln.

Auf den Tischen dampfen die Speisen, die Baijiu-Gläser klirren und im Hintergrund flimmert der Fernseher. In ganz China ist das so, zumindest einmal im Jahr. Am Vorabend des chinesischen Neujahres schaut fast das ganze Land geschlossen die Neujahrsgala im Staatsfernsehen.

Für ungeübte Zuschauer ist die Sendung ein wenig verwirrend: Nicht ein Moderator führt durch den Abend, sondern gleich fünf. Und dann haben diese auch noch die Angewohnheit, nach fast jedem Auftritt eines Musikers oder einem der endlos langen Sketche ihre Kostüme und Anzüge zu wechseln. Der Sendung schadet es dennoch nicht: Mit mehr 700 Millionen Zuschauern ist die Frühlingsfestshow die am meisten gesehene Sendung der Welt. Selbst im Guinnessbuch der Rekorde ist das so vermerkt. Die Faustregel lautet: Wer am Vorabend des Neujahrs im Fernsehen auftreten darf, ist danach ein Star in China. Und das gilt inzwischen auch für Unternehmen.

Den sagenhaften Betrag von einer Milliarde Yuan, umgerechnet gut 130 Millionen Euro, nahm in diesem Jahr das chinesische Start-up Kuaishuo in die Hand, um für seine Plattform zu werben. Die meisten großen Fußballvereine in Europa erhalten weniger Sponsoringgelder pro Saison, als Kuaishuo für diesen einen Abend hinlegte.

Der Plan des Unternehmens: Aus derzeit etwa 200 Millionen aktiven Nutzern sollten so schnell wie möglich 300 Millionen werden. Aufholen um jeden Preis, im Wettbewerb um die beliebteste Kurzvideo-App in China. Wer während der Sendung die Kuaishuo-App startete und sein Smartphone schüttelte, bekam digitale rote Geldumschläge zugeteilt - ein Neujahrsbrauch in China. Mal waren es 3,08 Yuan, dann 0,98 Yuan. Wenn halb China schüttelt, ist eine auch eine Milliarde Yuan rasch aufgebraucht, aber Millionen neuer Nutzer haben die App installiert.

Den großen Wettbewerber kennt man längst in Deutschland: Tiktok. In China heißt der Dienst Douyin. Millionenfach heruntergeladen, ist die App vor allem bei Teenagern sehr beliebt. Das Prinzip ist simpel: Man zeichnet mit dem Smartphone ein Video auf und lädt es hoch. Sobald man Tiktok allerdings startet, beginnt im Hintergrund künstliche Intelligenz zu werkeln, und das verblüffend gut, schon nach wenigen Videos, die man zu sehen bekommen hat, hat die App die Interessen ausgewertet und blendet zielsicher nur noch für den Nutzer relevante Videos ein. Jugendliche verbringen Stunden mit Tiktok, hangeln sich von einem Video zum nächsten.

Entwickelt hat diese App mit Suchtpotenzial die Firma Bytedance, das derzeit vielversprechendste Start-up in China. Die aktuelle Bewertung liegt seit der letzten Investorenrunde bei 75 Milliarden Dollar. Bei Kuaishuo sind es aktuell 18 Milliarden Dollar. Schaut man sich die Nutzerstatistiken an, fällt auf, dass Kuaishou vor allem auf dem Land verwendet wird, in den Städten aber der Bytedance-Dienst erfolgreicher ist. Auch im Ausland hat Kuaishou sich noch nicht etabliert. Unter dem Namen Kwai hat man sich zwar nach Brasilien, Russland und Ägypten vorgewagt, verglichen mit den Erfolgen von Tiktok in Europa und den Vereinigten Staaten hinkt das Unternehmen jedoch deutlich hinterher.

Die eigentliche Kuaishuo-Stärke ist der Livestream. Überall in China wird gefilmt. Im Bus, in der U-Bahn, in der Bibliothek, im Restaurant, ja selbst in Klassenzimmern richten Schüler ihre Smartphones aus. Knapp 400 Millionen schauen sich diese Übertragungen an. Anfangs wurde vor allem gesungen oder gerappt, inzwischen klicken immer mehr Chinesen auf Liveschalten von Landwirten, sie wollen wissen, woher ihre Lebensmittel stammen und wie sie zubereitet werden. Der Bauern-Kanal in China, das ist Kuaishou.

Laut Unternehmen bewerben bereits mehr als eine Million Bauern ihre Produkte per Video. Etwa 19 Milliarden Yuan Umsatz haben sie 2018 per Livestream gemacht - an jeder Transaktion verdient Kuaishuo mit. Gutes Geld, aber das Image, eine App vor allem für Landpomeranzen zu sein, das soll sich ändern.

Damit Millionen neue Nutzer, die alle gleichzeitig ihr Handy schütteln, um einen digitalen Geldumschlag zu gewinnen, die Server nicht lahm legen, wurden vor der Gala Überstunden bei Kuaishuo geschoben. Nicht auf dem platten Land, sondern im Pekinger Universitätsbezirk Haidian, wo sich etliche chinesische Start-ups angesiedelt haben. Die besten Hochschulen des Landes haben hier ihren Sitz, viele Unternehmen rekrutieren direkt aus dem Hörsaal. Der Nachbar von Kuaishuo ist der Suchmaschinenkonzern Baidu.

6000 Mitarbeiter arbeiten auf dem Kuaishuo-Campus. Gut 40 Prozent davon sind Softwareingenieure, aber auch Tausende Zensoren hat das Unternehmen eingestellt. Sie überwachen die etwa 15 Million Videos, die jeden Tag von den Nutzern hochgeladen werden. Ein Algorithmus sortiert vor: nackte Körper raus, Drogen weg. Vor allem politische Botschaften werden sofort eliminiert. Kritik an der Politik der Kommunistischen Partei Chinas wird nicht ausgespielt. Schließlich kooperiert das Unternehmen mit dem Staatsfernsehen, genauso wie mit der Volkszeitung, dem Sprachrohr der Partei.

Dabei hat wahrscheinlich ausgerechnet das katastrophale Krisenmanagement der Regierung Kuaishou in diesem Jahr die große Show verhagelt. Statt über die App, die roten Umschläge, die Milliarde und die Neujahrsgala sprechen in diesem Jahr die meisten Chinesen über den Ausbruch des Coronavirus. Der große Marketing-Plan ist nicht aufgegangen. Immerhin: 100 Millionen Yuan und 50 000 Gesichtsmasken hat das Unternehmen nun für Wuhan gespendet.

© SZ vom 29.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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