Kolumne China Valley:Ausgeklingelt

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An dieser Stelle schreiben jeden Mittwoch Christoph Giesen (Peking), Marc Beise (München), Karoline Meta Beisel (Brüssel), Helmut Martin-Jung (München) und Jürgen Schmieder (Los Angeles) im Wechsel. Illustration: Bernd Schifferdecker (Foto: N/A)

Auch in Peking sind Leihfahrräder zur Plage geworden. Die Anbieter liefern sich einen harten Wettbewerb - und machen Fehler. Jetzt droht sogar dem Marktführer die Pleite - Millionen Fahrräder wären dann führungslos.

Von Christoph Giesen

Auf einmal waren sie da, diese Fahrräder. Den Anfang machte die Firma Ofo, fast über Nacht stellte das Unternehmen 50 000 gelbe Räder in Peking auf: Einheitsgröße, keine Gangschaltung, lausige Bremsen, aber immerhin eine ordentliche Klingel. Dann passierte das, was in China immer passiert, wenn ein Start-up eine neue Idee hat. Es gibt sofort Nachahmer. Auf den Bürgersteigen vieler chinesischer Städte muss man seitdem Slalom laufen, überall diese Fahrräder. Gut ein Dutzend Anbieter sind es alleine in der Hauptstadt. Vor einem Jahr vermeldete die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua erste Zahlen: 2,35 Millionen Leihfahrräder in Peking!

Um der Massen an abgestellten Fahrrädern Herr zu werden, haben die Behörden inzwischen damit begonnen, Parkverbote für bestimmte Straßen auszusprechen. Herrenlose Räder landen auf Bike-Friedhöfen außerhalb der Stadt. Dennoch nahmen die meisten Chinesen die Fahrradschwemme erst einmal erstaunlich gelassen hin. Keine Proteste wie in München - wegen wohlgemerkt nicht einmal 10 000 Rädern (Auf den meisten Hauptverkehrsstraßen in Peking stehen mehr). Stattdessen traten die Chinesen in die Pedale: Genutzt werden die Räder vor allem für die letzten ein, zwei Kilometer. Wenn Taxis und Busse mal wieder im Stau stecken und die nächste U-Bahn-Station nicht in Sicht ist.

Jetzt aber könnte der Leihfahrradboom einen Dämpfer erhalten. Im Fokus: Ofo, die Firma der ersten Stunde. Im Internet ist ein Shitstorm aufgezogen, der die Existenz des Unternehmens bedroht. Vom Erdgeschoss bis hoch in den fünften Stock standen an diesem Montag Hunderte aufgebrachte Kunden in der Pekinger Firmenzentrale. Sie alle forderten ihre Kaution zurück, die man bei der Anmeldung hinterlegen muss. Aktuell sind es 199 Yuan, umgerechnet 25 Euro.

Seit einigen Wochen schon wird über das Schicksal von Ofo spekuliert. Eine finanzielle Schieflage bestreitet das Unternehmen. Fakt ist jedoch auch, dass mehrere Fahrradhersteller das Unternehmen wegen unbezahlter Rechnungen verklagt haben. Immer neue Fahrräder und dazu ein Geschäftsmodell, das nicht sofort zu durchschauen ist - das sorgt für Unsicherheit bei vielen Kunden. Das Unternehmen selbst erklärt nicht sonderlich gut, was es vor hat.

Eine Stunde Fahrradfahren kostet derzeit einen Yuan. Oft aber zahlt man nichts. Ständig bekommt man Gutschriften, so erbittert ist der Wettbewerb auf den Straßen in China. Viele der Start-ups haben Geld von den großen Technologiefirmen eingesammelt. Ofo zum Beispiel wird vom Versandhändler Alibaba unterstützt. Aber auch Tencent, Chinas Social-Media-Konzern, mischt mit.

Die Internetunternehmen interessieren sich nicht sonderlich fürs Fahrradfahren. Ihnen geht es wohl eher um Daten: Von wo bis wo ist der Nutzer gefahren? Wie lange sitzt er auf dem Sattel? An welchen Restaurants fährt er vorbei? Welche Läden liegen auf der Strecke? Wie oft nimmt er dieselbe Route? Stellt er sein Rad immer korrekt ab oder auch mal im Halteverbot? Informationen, die in Werbung, aber auch in die Bewertung der Bonität fließen. Alles wird gesammelt, archiviert und analysiert.

Wird Ofo den Shitstorm überleben? Verlangen Millionen Nutzer ihre Einlagen zurück, könnte es existenziell werden.

Die Ursache für den Kautions-Run: Vergangene Woche veröffentlichte ein Internetnutzer einen Blogbeitrag, er schrieb, er habe seine Einlagen zurückverlangen wollen, da ihm die Zukunft von Ofo zu unsicher erscheine. Früher wurde das Geld innerhalb von drei Tagen ausbezahlt, inzwischen dauert es laut Ofo-App drei Wochen. Viele Internetnutzer beklagen, dass sie noch deutlich länger warten müssten.

Ein Kunde outete sich als Ausländer, um schneller an sein Geld zu kommen - mit Erfolg

Der Blogger versuchte es zunächst bei der Telefonhotline. Warteschleife. Dann ersann er eine List, die er später die "Ausländer-Klage-Strategie" nannte. Er schrieb eine E-Mail und behauptete, er stamme aus Kalifornien, lebe erst seit zwei Jahren in China und spreche kaum Chinesisch. Wenn Ofo ihm nicht sofort seine Kaution zurückzahle, werde er das Unternehmen verklagen, drohte er.

Einen Tag später veröffentlichte er die Ofo-Antwort: Ein Entschuldigungsschreiben des Kundenservices; das Geld war auch schon eingetroffen. Im Internet löste das eine Debatte aus, gespickt mit nationalen Ressentiments. Der Hashtag "Vorgeben, Ausländer zu sein, und Ofo zahlt Kaution in Sekunden zurück", wird seitdem millionenfach geteilt. Am Montag schwappte der Protest aus dem Netz dann auf die Straße, die Firmenzentrale wurde belagert. "Aufgrund der großen Kundenbasis von Ofo ist es möglich, dass die Anzahl der Rückerstattungsanträge drastisch steigt", teilte das Unternehmen hernach kühl mit.

Die bislang einzige nennenswerte Insolvenz eines Fahrradverleihers war einer Marketingpanne geschuldet. Auch damals fing es im Internet an. Im vergangenen Juni änderte der Anbieter Bluegogo auf einmal das Symbol in seiner Buchungsapp. Ein Miniatur-Panzer zeigte an, wo das nächste freie Fahrrad steht. Just zu dem Zeitpunkt der Umstellung jährte sich allerdings das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Im Netz machte rasch ein Screenshot von der Chang'an Avenue die Runde, jener zehnspurigen Magistrale, auf der sich am 4. Juni 1989 die echten Panzer reihten und den Protest Tausender Studenten niederwalzten. Niemand traute sich mehr, bei Bluegogo zu investieren. Das Blutbad im Herzen Pekings wird in China totgeschwiegen. Der Firmengründer schrieb zum Abschied, dass sein Unternehmen "im Juni verflucht" worden sei. Nun könnte es den Marktführer erwischen.

© SZ vom 19.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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