Karstadt-Krise:Gespenster der Leere

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Zum Sterben zu groß, zum Leben zu klein - warum auch das alteingesessene Wäschefachgeschäft und der Döner-Händler viel zu fürchten haben. Zum Beispiel in Deggendorf, Niederbayern.

Von Gerhard Matzig

"Ja, bitteschön, kann ich hier eben mal durch? So, Sekunde. Danke." Rudolf Wagner, der die Statur eines kleinen, entschlossenen Mannes, aber auch das Wesen eines kleinen, entschlossenen Wirbelsturms besitzt, überwindet die voluminös in sich ruhende Frau an der Kasse mühelos.

Kaufhäuser sind Kundenmagnete - sollte Karstadt kleinere Filialen schließen, wären ganze Innenstädte von der Verödung bedroht. (Foto: Foto: dpa)

Karstadt-Geschäftsführer Wagner, 57 Jahre alt, ist agil. Er greift sich den Kassenschlüssel in der Schublade und hält sie endlich in Händen: seine beste Waffe, das letzte Wort - vielleicht auch eine letzte Chance für die 120 Mitarbeiter in Deggendorf, die vom "Fall Karstadt" betroffen sind. Also von "Sanierung", "Restrukturierung" oder "Neu-Aufstellung", wie es im Konzern heißt. Oder von Kündigung und Schließung, wie man in der Stadt sagt.

"Schon jetzt 3000 Euro über dem Soll"

Der Schlüsselanhänger aus Plastik ist zufälligerweise grün. Grün wie die Hoffnung. Er könnte aber auch rot sein. Rot wie die roten Zahlen des größten europäischen Einzelhandelskonzerns. Schwarz könnte er auch sein: Wagner hofft zum Jahresende auf eine Bilanz mit einer "schwarzen Null".

Und Deggendorf fürchtet sich vor der schwarzen Wolke, die über der niederbayerischen Stadt hängt, seit Deggendorf in den Nachrichten als einer von 77 Karstadt-Standorten genannt wurde, an denen drastische Veränderungen bevorstehen.

"77 kleinere Filialen" (das heißt: unter einer Größe von 8000 Quadratmetern) sind unter Druck geraten. Unabhängig davon, ob dort Gewinne oder Verluste erwirtschaftet werden. Das ganze Karstadt-Imperium all der Kinderschuhe, Herrensocken oder Damenmieder ist schwer angeschlagen. "Kehraus bei Karstadt", "Aus der Traum", "Entlassen werden vor allem Frauen", "Kaufhaus-Katastrophe" - so liest sich das seit Tagen. Auch in Deggendorf.

Ein riesiger Bunker

Oberer Stadtplatz, Untergeschoss, Abteilung Schreibwaren. Es ist Samstag, 15 Uhr. Wagner steckt den Schlüssel in die Kasse und dreht ihn um. Die Maschine rattert einen 30 Zentimeter langen Zahlenzettel heraus. "Da! Sehen Sie! Noch drei Stunden offen - aber schon jetzt sind wir über Soll! 3000 Euro über Soll!" Zum ersten Mal wirkt das sonst so geschäftsführerhaft tapfere Lächeln in Wagners Gesicht unangestrengt. Er nimmt die Brille ab: "Über Soll!"

Dazu präsentiert er "gegen all die falschen Meldungen in den Medien" die jüngste Karstadt-Verlautbarung: "Die Neuausrichtung des Warenhaus-Bereiches sieht ausdrücklich nicht die Schließung der 77 Mittelstadt-Filialen vor." Aber dennoch sollen die 77 Häuser innerhalb von drei Jahren "an einen Investor oder Partner abgegeben werden".

Und wenn nun niemand die Karstadt-Filiale mitten in Deggendorf haben möchte? Was tut man mit einem riesigen, fensterlosen Stahlbetonbunker? Mit einem Haus, dessen architektonische Formlosigkeit ein bisschen so wirkt, als habe jemand einen Haufen Eiswürfel in der Sonne vergessen - und dann die verlaufenen Klumpen in Panik wieder eingefroren.

Im Grunde bedeutet auch die jüngste Pressemitteilung: Alles ist möglich. Möglich, dass man auf die Füße kommt in den nächsten Jahren, volkswirtschaftlich in Deutschland, betriebswirtschaftlich bei Karstadt-Quelle. Möglich, dass man sich einen Partner sucht. Möglich, dass man verkauft. Falls man aber keinen Käufer findet? Möglich auch, dass Karstadt schließt, irgendwann. Und dann?

Der Magnet Karstadt

"Furchtbar, dann verkommt der Platz hier", sagt Sait Ögütmen - und dass in der Folge nicht nur der Platz, sondern die ganze Deggendorfer Innenstadt von Auszehrung und Schwund betroffen wären, das befürchten hier viele. Zugenagelte, verbretterte Karstadt-Eingänge, mit vergilbtem Geschenkpapier verhangene Karstadt-Schaufenster: keine schöne Vision. Seit 1997 betreibt Ögütmen neben Karstadt das "Sesam Schlemmerland", wo der Döner 2,80 Euro kostet. Er braucht die Laufkundschaft, die von Karstadt angezogen wird.

Einem Gutachten zufolge, das voriges Jahr vom Nürnberger GfK-Prisma-Institut für Handels- und Regionalforschung erstellt wurde, wirkt die Karstadt-Dependance in Deggendorf als "Magnet". Es geht in der Stadt um Laufkundschaft, um Leute, die erst zu Karstadt wollen - und danach vielleicht ins Schlemmerland nebenan, ins Wäschefachgeschäft "Vietze" gegenüber, zum "Högn", der seit Menschengedenken Schreibwaren verkauft, oder zu "Krauth" oder "Schötz" oder "Keppeler".

Der alteingesessene Familien-Einzelhandel, hochspezialisiert, hat Karstadt seit dessen Eröffnung als Alles-unter-einem-Dach-Kaufhaus in den Siebzigerjahren gefürchtet - und fürchtet nun nur dessen Tod. "Furchtbar", "schrecklich", "nicht auszudenken": Das kriegt man in Deggendorf überall zu hören zum Stichwort Karstadt. "Wir sind nun mal der Platzhirsch hier", sagt Rudolf Wagner. Karstadt ist viel zu groß, um sterben zu dürfen.

Symbol des Aufstiegs, Gespenst des Abstiegs

Und Karstadt ist viel zu klein, um leben zu können. Ögütmens Schlemmerland ist vielleicht 20 Quadratmeter groß. Karstadt Deggendorf ist um etwa 50 Schlemmerländer zu klein, um von der fatalen 8000-Quadratmeter-Regel verschont zu bleiben. Eine halbe Blusenabteilung mehr - und Deggendorf hätte keine Probleme.

Aber 3000 Euro über Soll, immerhin. Dieser Samstag ist ein guter Samstag in Deggendorf. Trotzdem wird der Verlust des Essener Karstadt-Quelle-Konzerns allein in diesem Jahr bis zu 200 Millionen Euro betragen. Insgesamt sind in Deutschland mindestens 7000, wenn nicht weit mehr Mitarbeiter von der Krise bedroht. Das entspricht ungefähr der Einwohnerzahl von Deggendorf. Und das Jahr müsste schon 66.667 Deggendorfer Über-Soll-Samstage haben, um das alles wettzumachen.

Die Oktobersonne scheint dennoch wohlwollend auf die glanzvoll herausgeputzte, aufgeräumte Stadt an der Donau, die zwischen Regensburg und Passau, zwischen Gäuboden und Bayerischem Wald liegt. Die Stadt, älter als tausend Jahre, ist schön. Der lang gezogene Stadtplatz krümmt sich wie eine Banane, die um Haltung bemüht ist: Die Stadtgründer wussten um die Bedeutung räumlicher Suggestion.

Es gibt ein altes Rathaus und ein neues Rathaus. Die Sonnenuhr des alten Rathauses rät altväterlich, man möge nur die heiteren Stunden zählen. Das neue Rathaus befindet sich an der Franz-Josef-Strauß-Straße. Es steht jetzt dort, wo das alte Krankenhaus war. Aber es gibt natürlich auch ein neues Krankenhaus: Strahlend weiß hockt es über der Stadt wie ein in den Siebzigerjahren größenwahnsinnig gewordener Schuhkarton. Und es gibt, statt der alten Post, mittlerweile eine neue Post. Deggendorf ist ein Stein, Straße und Stadt gewordenes Dokument des Aufschwungs, des "Neuen".

"Fachhochschulstadt Deggendorf" steht am Ortseingang. Eigentlich lächerlich, wie sich das Städtchen in die Brust wirft. Aber dennoch: Vor zehn Jahren gab es hier 40 FH-Studenten, jetzt sind es 2500. Oberbürgermeisterin Anna Eder (CSU), 54 Jahre alt, schaut angriffslustig und charmant streng durch die Brille. Sie sagt: "Deggendorf hat in den letzten 20 Jahren die Zahl der gewerblichen Betriebe verdoppeln können. Einwohner- und Beschäftigtenzahl sind im selben Zeitraum um bis zu 20 Prozent gestiegen."

In Deggendorf könnte man zwar problemlos die "Feuerzangenbowle" mit Heinz Rühmann verfilmen - so verschlafen ist die Stadt. Aber trotzdem sind die Weichen hier auf Wachstum und Zukunft gestellt - so ausgeschlafen ist die Stadt auch. Und dazu hat Deggendorf etwas Heiteres, Sorgloses.

Bis jetzt. Seit der Fall Karstadt bekannt wurde, ist der Himmel auch dann schwarz, wenn er blau ist. Wobei der kleine Karstadt-Kassenschlüssel aus dem Untergeschoss zugleich der Schlüssel ist, um diese Stadt zu verstehen: Karstadt ist in Deggendorf das Symbol des Aufstiegs. Und deshalb ist Karstadt auch das Gespenst des Abstiegs.

Die Angst vor der Brache

"Wenn so ein Kaufhaus schließt und es gibt keine Nachfolgenutzung, dann hat das einen Verödungseffekt mit gravierenden Folgen." Das sagt Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des deutschen Städte- und Gemeindebundes, und es hört sich sehr theoretisch an. Die Praxis kann man allerdings studieren: in Deggendorf.

Nicht weit von Karstadt entfernt, am benachbarten Luitpoldplatz, steht das frühere Kaufhaus Paul. Einst war das eine gute Adresse. Dann kam die Kaufhalle in das Haus, schon weniger gut, aber billiger. Dann wurde es noch billiger - und jetzt steht ein "1-Euro-Shop" am Luitpoldplatz. Zum Beispiel kann man hier einen bunten Taschenventilator kaufen. Kostet nur einen Euro. An so einem Ort kann man besonders gut begreifen, wie Städte sich verramschen können. Wir rabattschlachten uns gegenseitig. Und am Ende landen wir beim Dichter Bertolt Brecht und seinem Satz: "Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind!"

Von oben betrachtet sieht der Deggendorfer Stadtgrundriss aus, als hätte man dem Anatomie-Atlas ein Herz entnommen, um es diesem Grundriss zu implantieren: Nördlicher, Östlicher und Westlicher Stadtgraben umfassen ein herzförmiges Gebilde: die Altstadt. Sie ist durchzogen von kleinen Gassen und Straßen. Das sind die Blutbahnen. Und als Herzschrittmacher dient Karstadt. Im Dienst "seit 23. September 1976". Das war der Tag, an dem die Welt nach Deggendorf kam, jedenfalls die Welt des Konsums.

Johann Blüml weiß das ganz genau, denn an diesem Tag, als Karstadt eröffnet wurde, arbeitete er in der Sportabteilung. Als Azubi, 18 Jahre alt. Heute ist er 46 und "in der Organisation und im Personalwesen tätig". Keine schlechte Karriere. Man kann durchaus verstehen, warum dieses Kaufhaus ein Symbol für den Aufschwung ist. Für die Stadt. Für die Käufer. Für die Verkäufer. Vor 28 Jahren baute sich Karstadt eine Art Mini-Fußgängerzone vor den Eingang. Heute ist diese Zone erwachsen und umfasst den oberen und den unteren Stadtplatz.

Kaufhaus, Fußgängerzone... vielleicht sehen heute, eine Generation später, die Symbole des Voranschreitens anders aus. Markus Kress, 41 Jahre alt, Architekt in Deggendorf, weist auf so ein Symbol hin. Zehn Kilometer von Deggendorf entfernt, auf der zubetonierten, so genannten grünen Wiese, ganz nah an der Autobahn, sieht man schon von weitem das Schild, das auch in der Prärie von Kansas nicht falsch wäre: "Globus".

Draußen auf der Wiese

Ein Einkaufszentrum, und was für eines. "250 Meter Frontlänge oder mehr", schätzt Kress, "dazu neun Reihen Parkplätze und eine Mall, in der sieben, acht Einkaufswagen nebeneinander Platz haben. Und Läden aller Art. Lebensmittel, Heimwerkermarkt, DVDs. Alles." Das ist zumindest eine der möglichen Antworten auf die Frage, warum es Karstadt schlecht geht - und warum es womöglich auch der Stadt nicht mehr lange gut geht.

Karstadt bietet eine mittlere Anzahl von mittleren Dingen zu mittleren Preisen für eine mittlere Gesellschaft - sagen wir: in Deggendorf. Globus bietet dagegen, wie es der Name suggeriert, gleich die ganze Welt. Bequem - oder doch bequemer. Billig - oder doch billiger.

Es sieht so aus, als würde sich die Gesellschaft lieber ihren Rändern nähern. Der grünen Wiese. Dem Gewerbepark. Dem Outlet-Center. Dem absolut Billigen. Oder dem absolut Exquisiten. Ein mittleres Angebot ist nicht gefragt. "Das", sagt Kress, "wirkt sich auf die Mitte der Stadt aus." Aber: "Architektur und Städtebau können helfen, die Mitte zu vitalisieren. Irgendwann kommen die Leute auch zum Einkaufen oder wenigstens zum Leben zurück in die Städte."

Vielleicht.

© SZ vom 05.10.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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