Japan im Deflationsfieber:Morgen wird alles billiger

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Der Zwang zum permanenten Ausverkauf: Die Deflation in Japan hat eine gutmütige und eine bösartige Seite — doch die bösartige wird immer stärker spürbar.

André Kunz

(SZ vom 31.05.2003) — "Wir nennen es Deflationsgericht", sagt Chiyo Kadota mit ernster Miene. Dann lacht sie und schaufelt den gedämpften Reis, gebratene Rindfleischstreifen und Zwiebelringe mit Gusto aus der großen weißen Porzellanschüssel. "Gyudon" heißt das Gericht und kostet im Kettenrestaurant Yoshinoya ungefähr zwei Euro. "Es reicht als leichtes Mittagessen aus", meint Kadota und trinkt das Wasser aus, das gratis serviert wird.

Nur durch die rosarote Brille sieht die wirtschaftliche Entwicklung in Japan noch positiv aus. (Foto: dpa)

So sieht die gutmütige Seite der japanischen Deflation aus. Den Spitznamen "Deflationsgericht" erhielt "Gyudon", weil es vor zwei Jahren noch fast drei Euro gekostet hatte. Dann setzte in Japan ein erbarmungsloser Wettbewerb unter Schnellimbissketten ein.

McDonalds, Kentucky Fried Chicken, Mosburger und viele kleinere Ketten begannen die Preise für Hamburger, Nudelsuppen und einfache Reisgerichte zu senken. Yoshinoya musste nachziehen und griff zu einem dramatischen Mittel. Das einfachste Gyudon-Gericht sollte nicht mehr als zwei Euro kosten. Seither verkauft Yoshinoya über Mittag fast doppelt so viele Gyudon. Oder eben "Deflationsessen".

Eine abstrakte Zahl wird ganz real

Defuree nennen die Japaner die Deflation, und sie spüren sie überall; im Restaurant, im Kleidergeschäft, im Warenhaus und beim Immobilienmakler. Jene abstrakte Zahl von minus 0,4 Prozent, die japanische Volkswirte gerade wieder für die Veränderung des allgemeinen Preisniveaus im Monat April errechnet haben, erlebt der Durchschnittsjapaner auf sehr unterschiedliche Weise im täglichen Leben.

"Deflation hat immer zwei Gesichter; ein Gutmütiges und ein Bösartiges", sagt Eiji Yokoyama, Volkswirt von AIG Global Investment. Gutmütig wirke sich der schrittweise Preisverfall im Hochpreisland Japan überall dort aus, wo die Preise zuvor weit über dem Niveau der entwickelten Industrieländer gestanden hatten.

Yokoyama empfiehlt als Anschauungsbeispiel eine Joggingrunde um den Kaiserpalast von Tokio. Das von rund sechs Kilometern Wassergraben und Wegen umfasste Grundstück war 1990 am Höhepunkt der damaligen Spekulationsblase für Immobilien so viel wert wie der US-Bundesstaat Kalifornien. Inzwischen ist das zwei Quadratkilometer große Stück Land nur noch so teuer wie die halbe Stadt Los Angeles. "Aus dieser Warte betrachtet, wird Japan wohl noch einige Jahre an Preisverfall zu leiden haben, um wirklich auf ein internationales Niveau zu gelangen", prophezeit Yokoyama.

Ausflug ans Meer entfällt

Zurück im Norden der Hafenstadt Yokohama, nicht weit vom Restaurant Yoshinoya, zieht ein Riesenrad den Blick auf ein neues Riesengebäude. Das Rad ist das Wahrzeichen des zwei Jahre alten Konsumtempels unter der Leitung des Warenhauskonzerns Hankyu. Mehr als sechzig Filialen von bekannten japanischen und ausländischen Trendgeschäften sind auf sieben Stockwerken versammelt. Der Kundenaufmarsch ist überdurchschnittlich hoch im Vergleich zu traditionellen Einkaufsstraßen in der Region. Und trotzdem leiden die Geschäfte von Hankyu unter einem gemeinsamen Problem: Deflation.

"Morgen wird's noch günstiger! Das ist die Grundhaltung aller Kunden geworden und macht das Verkaufen sehr schwierig", klagt Akira Nishioka, einer der Marketingleiter von Hankyu. Und so haben sich die einzelnen Geschäfte im Zeitalter des Preisverfalls daran gewöhnt, mindestens in einer Ecke mit Artikeln im Sonderangebot zu locken, damit die Kunden das Verkaufslokal überhaupt noch betreten.

"Geschäfte, die sich diesem Zwang zum permanenten Ausverkauf nicht unterwerfen, können selbst in diesem trendigen Einkaufszentrum nicht mehr überleben", seufzt Nishioka.

Die Mütter und Väter, die sich beim Einkauf im Hankyu durchaus über die Sonderangebote freuen, klagen nach dem Einkaufsbummel beim Imbiss in einem der Billigrestaurants im siebten Stock über ihre eigene Situation. Hiroshi Matsumoto, dem Vater von drei Kindern und Gruppenleiter in einem großen Werbebüro von Yokohama sind die Jahresend- und Sommerboni seit vier Jahren gekürzt worden.

"Diesen Sommer reicht es nicht mal mehr für ein Badewochenende am nahen Meer", sagt Matsumoto. Früher konnte er mit einem Sommerbonus, der etwa zwei bis drei Monatsgehältern entsprach, die ganze Familie zu einem einwöchigen Okinawa-Urlaub ausführen und noch Geld für das geplante Eigenheim auf die Seite legen. Diese Zeiten sind längst vorbei.

Matsumoto ist froh, dass er nicht wie andere Arbeitskollegen bereits sein Erspartes angreifen muss, um zu überleben. Den Bau des Einfamilienhauses hat die Familie Matsumoto nun schon vier Jahre verschoben, und Vater Matsumoto glaubt, dass er noch weitere zwei bis fünf Jahre warten muss, um den Traum zu verwirklichen.

Trotzdem ist die Familie Matsumoto nicht unglücklich. Im Gegenteil, sie sind überzeugt, dass sich das Warten doch gelohnt hat. Vor vier Jahren hätten sie 500.000 Euro für ein Grundstück und ein zweistöckiges Sechszimmerhaus ausgeben müssen. Heute ist dasselbe für 400.000 Euro erhältlich. "Ich hätte allein wegen des Wertverlusts 90.000 Euro aus dem Fenster geworden", sagt Matsumoto.

Für 0,2 Prozent sparen

So wie die Familie Matsumoto warten derzeit Millionen von Japanern mit größeren Investitionen, wie dem Bau oder dem Kauf des Eigenheimes ab. Die Furcht vor herben Wertverlusten ihrer Investitionen ist zu groß.

Familienväter wie Hiroshi Matsumoto lassen ihr Erspartes lieber für 0,2 Prozent Zins auf der Postbank liegen. Im derzeitigen deflationären Umfeld nimmt der Wert des Geldes trotz der Minizinsen real um etwa zwei Prozent jährlich zu.

Dabei ist sich der Werbefachmann Matsumoto durchaus bewusst, dass er mit dieser Konsumhaltung die Deflation anheizt und direkt zur Malaise der japanischen Volkswirtschaft beiträgt. "Schon bald kommen hohe Ausbildungskosten für die drei Kinder auf mich zu und dafür muss ich jetzt auch noch sparen", verteidigt sich Matsumoto.

Wie er für seine Frau und sich die Altersvorsorge sichern soll, falls die Krise in dem Land noch einmal zehn Jahre dauert, wie viele kritische Volkswirte heute voraussagen - das mag sich Matsumoto lieber nicht vorstellen.

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