Internet-Denker Doc Searls:"Im Netz sind wir nackt und Firmen nutzen das aus"

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Doc Searls ist Fellow am Berkman Center for Internet & Society in Harvard und forscht am Center for Information Technology and Society (CITS) der University of California zur Internet-Infrastruktur. (Foto: Familie Searls)

95 bahnbrechende Thesen über das Internet veröffentlichten die Verfasser des Cluetrain Manifesto vor 15 Jahren. Nun legen sie nach und warnen, dass wir das digitale Wunder zu verlieren drohen. Ein Interview mit Ko-Autor Doc Searls.

Von Johannes Kuhn, San Francisco

"Märkte sind Gespräche". Dieser Satz aus den 95 Thesen des Cluetrain Manifestos von 1999 gilt als Prophezeiung für das digitale Zeitalter und die Umwälzungen im Zeichen wachsender Vernetzung (Cluetrain bedeutet übersetzt in etwa "Zug der Ahnung"). Autoren waren die Tech-Denker Rick Levine, Christopher Locke, Doc Searls und David Weinberger, die in den Jahren zuvor die Wucht des Internets erkannt hatten.

Fast 16 Jahre später erschien nun am Donnerstag überraschend eine Art Update: "New Clues" erinnert an das offene Wesen des Internets und kritisiert die gegenwärtige Kommerzialisierung und Entfremdung von der Ursprungsidee. Die 121 neuen Thesen stammen von Doc Searls und David Weinberger, sie entstanden in Abstimmung mit den anderen Original-Autoren.

Süddeutsche.de sprach mit dem heute 67-jährigen Searls über die neuen Thesen und den Zustand des Internets.

16 Jahre ist im Internet-Zeitalter fast eine Ewigkeit. Warum gerade jetzt ein Update für das Cluetrain-Manifest?

Wir haben gemerkt, dass wir die Erkenntnisse von damals wieder aufgreifen sollten. Cluetrain war auch eine Reaktion auf den Dotcom-Boom, als Firmen plötzlich Einkaufszentren ins Netz stellten, weil sie das Konzept eben aus der physischen Welt kannten. Dabei ging es gar nicht darum: Das Internet war etwas Neues und Wichtiges, das die Welt veränderte, weil es die Distanz zwischen uns Menschen auf Null reduzierte. Und mit dem Aufstieg des mobilen Internets und vor allem der Apps haben wir einen zentralen Teil davon verloren.

Was genau meinen Sie?

Apps existieren, anders als Webseiten, isoliert - und damit fehlt ihnen etwas Wesentliches. Jede neue Seite, jeder neue Link macht das Web größer. Jede neue App gibt uns eine neue Beschäftigung für unsere Fahrt im Bus, weil Apps Silos sind, die kaum Verbindungen im Netzwerk haben. Der Hyperlink ist eine mächtige Errungenschaft des offenen Internets, und wer ihn aufgibt, verhindert etwas Wichtiges, das früher möglich war. Es war also an der Zeit, nochmal klarzustellen: Das Internet sind wir Menschen, die an unterschiedlichen Orten dezentral miteinander kommunizieren können. Wir dürfen dieses Wunder nicht verlieren.

Was ist schief gelaufen, wenn Sie an die Entwicklung der vergangenen Jahre denken?

Ich würde es positiv sehen: Es gibt ein paar Sachen, die noch nicht in die richtige Richtung gehen - das Internet ist immer noch neu, eigentlich entstand es 1995, als die ersten Provider auftauchten, die Browser, die E-Mail wie wir sie heute kennen, kommerzielle Aktivitäten. 20 Jahre, das ist nicht viel.

Das Netz ist keine Kathedrale, es steht höchstens das Baugerüst. Denken Sie an Privatsphäre, die war zunächst nicht mal Teil des Designs. Die ursprünglichen Internet-Protokolle wurden entwickelt, damit wir uns vernetzen. Es war ein bisschen wie im Garten Eden, wir sprangen nackt umher. In der physischen Welt haben wir 10.000 Jahre dafür gebraucht, so etwas wie Privatsphäre zu entwickeln und uns Kleidung anzuziehen. Im Netz sind wir nackt und Firmen nutzen das aus. Wir müssen das Äquivalent zu Bekleidung erst noch entwerfen.

In Ihren neuen Thesen sparen Sie in diesem Zusammenhang nicht mit Kritik an Online-Werbung.

Werbung wurde furchtbar pervertiert, bis hin ins Unmoralische. Ein Geschäft würde mir niemals einen Sender auf die Schulter pflanzen, nachdem ich in ihm eingekauft habe. Im Web ist das Standard, und das ist einfach falsch. Weil so viel davon unbeobachtet abläuft, haben wir all diese gruseligen Verhaltensmuster.

Kommerzielle Interessen sind das eine, technische Möglichkeiten und Regierungsinteressen sind derzeit andere Faktoren, die bei der Entwicklung des Internets eine große Rolle spielen. Wie wird sich das ausbalancieren?

Es wird irre werden (lacht). Regierungen tun sich schwer mit einer Lebenswelt, die sie nicht komplett kontrollieren können. Wir erwarten ja auch, dass Regierungen für unsere Sicherheit sorgen, Gesetze durchsetzen. Das alles ist in einer Welt ohne nationale Grenzen sehr schwer. Menschen können so öffentlich und so geheim wie noch nie zuvor agieren. Sie können etwas an die ganze Welt senden oder die extremste Verschlüsselung verwenden, und in den Gesetzen steht nichts, das diese Tatsachen überhaupt erfasst.

Es wird lange dauern, bis Staat und Gesellschaft einen angemessenen Umgang damit finden, weil immer auch unbeabsichtigte Konsequenzen eine Rolle spielen. Die NSA-Überwachung hat zum Beispiel dazu geführt, dass viele Firmen keine Server in den USA mehr mieten. Die Lösung braucht also Geduld - aber wenn wir glauben, dass das Internet nur aus GAFTA (Google-Apple-Facebook-Twitter-Amazon, d. Red.) besteht, wird es nur länger dauern. Mehr noch: Dann haben wir das Internet verloren und sind zurück in der Zeit von MSN, AOL und Compuserve.

Die Rolle der Tech-Großkonzerne wird gerade in Deutschland heiß diskutiert...

Ich bin hin und hergerissen: Ich mag Facebook nicht und wie extrem die Privatsphäre dort durch das Geschäftsmodell verletzt wird. Mir wäre es lieber, sie würden Geld verlangen. Aber sie machen einen guten Job, ich bin sehr beeindruckt von ihrem technischen Unterbau.

Wir sind insgesamt jedoch zu verwundbar, weil so viel von unserem Leben in den Datenbanken dieser Unternehmen existiert. Wenn wir Google und Facebook wie eine Infrastruktur behandeln würden, wie Straßen oder Kraftwerke, würden Beamte sie immer wieder inspizieren, damit nichts falsch läuft. So aber weiß niemand, was dort passiert, die Datenzentren sind absolut blickdicht.

Aber eine Welt ohne diese Tech-Portale erscheint gerade schwer vorstellbar.

Die existierende Online-Werbung ist eine Blase. Und sie wird platzen. Der größte Fehler von Unternehmen ist, dass sie glauben, dass Menschen ständig etwas kaufen wollen. Deshalb ist das meiste Geld verschwendet. Wenn wir uns ein Auto kaufen möchten, muss es bessere Arten geben, dies dem Markt zu signalisieren, als auf eine Anzeige zu klicken. Und das wird passieren und die Online-Werbung in ihrer bisherigen Form zerstören. Vielleicht passen sich Facebook und Google an, aber das jetzige Modell wird kaputt sein.

Deshalb bin ich gelassen und wundere mich zum Beispiel über die herrschende Big-Data-Manie. Unternehmen sollen uns angeblich besser kennen, als wir uns selbst. Das ist... wie sagt man auf deutsch? Absoluter Scheiß. Kein Computer kann das, Maschinen lesen aus Menschen meist genau das Falsche heraus.

Das hört sich nach einem Internet an, das anders aussieht als das, was viele Experten prognostizieren.

Es hilft, einen Schritt zurückzutreten. Wie sagt man die Entwicklung einer Zivilisation vorher? Wir werden immer sprechen, uns reproduzieren. Wahrscheinlich gibt es auch immer Kriege, aber wir werden auch immer Familien haben.

Mit dem Internet hat die Menschheit einen Ort geschaffen, an dem wir alle gemeinsam existieren. Das Internet ist nicht die Leitung, aus der es kommt, nicht die Firmen, die es bevölkern. Es gehört niemandem, jeder kann es benutzen, jeder kann es verbessern. Wir haben kein festes Periodensystem von Elementen wie in der Chemie, wir können alles erfinden. Das ist alles ziemlich genial. Heute denken wir, das Internet ist GAFTA. Vielleicht wird das so bleiben, aber das glaube ich nicht.

Was macht Sie so sicher?

Ich bin 1985 ins Silicon Valley gekommen. Mein Sohn und ich haben in Mountain View auf dem Parkplatz einer kleinen Tech-Firma Basketball gespielt, nebenan war ein Bauernhof und Felder, sonst gab es da nicht viel. Heute ist das alles der Google-Campus. Damals waren Sun Microsystems, Commodore, Atari, IBM die dominierenden Firmen. Sie sind fast alle tot oder schleppen sich gerade so durch, mit Ausnahme von Apple vielleicht, und die hatten auch furchtbare Zeiten.

Wie kam es zu diesen Veränderungen?

Firmen sind keine Ökosysteme, sondern abgeschlossene Gebilde. Eine Stadt können Sie bombardieren oder die Pest kann dort wüten, die Stadt kann trotzdem wieder blühen. Weil sie offen ist. Genau wie Sprachen oder das Internet. Unternehmen sind in einem gewissen Sinne wie Menschen, sie altern und sterben irgendwann.

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