Im Gillette-Labor:An Männerwange und Frauenbein

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Sanft, schnell, scharf: In seinem Forschungszentrum in England versucht sich der Gillette-Konzern an der perfekten Rasur.

Von Hubertus Breuer

Früh am morgen bietet das Werkstor des Gillette-Forschungszentrums in Reading bei London ein ungewöhnliches Bild: Dutzende Männer betreten das Gelände, wo der Marktführer für Nassrasierer neue Produkte entwickelt - und alle sind unrasiert. Sie kommen mit Aktenkoffern und Plastiktüten, in Jogginghosen und im Anzug.

In einem Backsteinbau zeichnen sie auf einer Liste ihren gedruckten Namen ab, dann marschieren sie eilig zu den Waschräumen. Keiner von ihnen arbeitet für die Firma; sie sind allesamt Versuchskaninchen, die Rasierer testen.

Mehr als hundert Ingenieure und Wissenschaftler tüfteln in Reading daran, Rasierer ständig zu verbessern. Sie erproben neue Klingenkombinationen, Griffe und Beschichtungen an einem bunten Querschnitt durchs englische Volk, der sich für ein kleines Entgelt im Labor rasiert: Männer, die ihre Wangen und Hälse abschaben, Frauen, die Achseln und Beine von Haarwuchs befreien.

"Der endgültige Maßstab ist immer der Endverbraucher", erklärt der Physiker Kevin Powell. Und er legt dabei so viel Enthusiasmus an den Tag, dass sich die Journalisten, die erstmals in das Gillette-Labor eingeladen worden sind, fragen, ob Powell wirklich hingerissen ist von seiner eigenen Arbeit oder sein Produkt nur gut vermarkten will.

Kommandogruppe Machterhalt

Der Physiker hat früher militärische Flugtriebwerke für Rolls-Royce entwickelt. Und dem Kriegerischen ist er in mancher Hinsicht auch bei Gillette treu geblieben: Er leitet hier die Forschungsgruppe Nassrasur, eine Kommandoeinheit, die für den Konzern um Machterhalt kämpft - bislang mit Erfolg.

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts regiert Gillette schon den Klingenmarkt. Allein in Europa und Nordamerika hat die Firma im Jahr 2002 zwei Milliarden Dollar für den Drei-Klingen-Rasierer "Mach 3" eingenommen.

Doch im vergangenen September forderte Schick Wilkinson, sonst nur abgeschlagener Zweiter, erstmals den Platzhirsch zum Kampf heraus. Die Firma führte den "Quattro" ein, einen Rasierer mit vier Klingen. Darum steht Powells Team nun gleichsam in vorderster Front beim Abwehrkampf gegen den Herausforderer.

Barthaar-Wissenschaft

Nicht nur in der Werbung ist die Rasur ein entscheidender Teil der männlichen Existenz: Insgesamt verbringt ein Mann 3350 Stunden mit seinem Rasierapparat, um seine sieben- bis fünfzehntausend Barthaare zu bändigen und 800 Meter abzuschneiden - verteilt über ein ganzes Leben.

Einen kleinen Ausschnitt davon beobachtet Powells Team im Testgebäude. Dort verteilen sich stoppelige Männer in Kabinen mit abwaschbaren Vorhängen, seifen sich ein und greifen dann nach den bereitgelegten Rasierern ohne Typenbezeichnung. Durch Einwegspiegel beobachten versteckte Kameras jeden Zug. Etwa 200 braucht ein Mann im Durchschnitt, haben die Entwickler festgestellt, doch die Extreme schwanken zwischen 80 und 700.

Ein Stockwerk höher schaben sich die Frauen in rosa Duschwannen, dezent in Shorts und T-Shirt gekleidet, Achseln und Beine. Am Ende bewerten alle auf einem berührungsempfindlichen Bildschirm die Rasur nach Komfort, Glätte und Hautirritation.

"Was haben die Probanden diesen Morgen getestet?", wollen die Journalisten wissen: "Eine neue Klinge?" Powell lächelt, streicht verlegen die Winnie the Pooh-Krawatte glatt und dreht sich zur Pressesprecherin um. Die schüttelt den Kopf - Betriebsgeheimnis.

Für Gillette ist die Einladung an die Journalisten Kriegsräson: Bisher galt das Forschungszentrum als so geheim wie das Pentagon. Doch im Streit mit Schlick, der nicht nur im Laden ausgefochten wird, sondern wegen angeblich verletzter Patente und angeblich irreführender Werbung auch vor Gericht, braucht der Konzern Publicity.

Vorsprung durch Glätte

Gillettes Marktmacht gründet sich auf eine Reihe von Innovationen: Zunächst erfand 1895 der Amerikaner King Camp Gillette die doppelschneidige Wegwerfklinge aus Walzstahl. Dann kam 1972 das Zweiklingengerät heraus.

Es nützte einen soeben entdeckten Verzögerungseffekt namens Hysteresis aus: Die erste Klinge zieht das Haar beim Abschneiden leicht aus dem Hautbett heraus. Der gekappte Stummel gleitet zwar innerhalb einer Achtelsekunde in die Epidermis zurück, doch bevor sich das Haar dort verkriechen kann, säbelt die zweite Klinge noch einmal ein Stück ab.

Später kam der Schwingkopfrasierer mit besonders tief liegendem Drehpunkt, die Einzelfederung der Klingen und schließlich - vor sechs Jahren - der Dreifachrasierer, bei dem vorgelagerte Lamellen die Haut straffen. Diesen "Mach3" will Gillette demnächst noch ergänzen: Beim "M3Power" soll ein eingebauter Mikromotor die Barthaare durch Vibrationen hochheben.

Obwohl die Beschreibung dieses Vibrators mehr nach Marketing als nach Erkenntnisfortschritt klingt, preist Powell das Gerät in den höchsten Tönen: "Das beste, was wir bieten können." Vorerst jedenfalls. Denn auch ein völlig neuer Rasierer, Nachfolger der M3-Reihe, ist bereits auf den Weg gebracht. Mit welchen Merkmalen der aufwartet, verrät Powell freilich nicht. Ein Quinto mit fünf Klingen wird es indes kaum sein.

Laborarbeit

Die Prototypen, die der Ingenieur entwirft, werden in einer ganzen Reihe von Labors getestet, bevor sich das Testpublikum damit rasiert. Das erste ähnelt einer Musterküche: Es ist hell, fast leer, bis auf lange Arbeitsflächen, Waschbecken und ein paar Rechner.

Powell nimmt einen mit Sensoren ausgestatteten Rasierer zur Hand, an dem Dutzende dünner Kabel hängen. Die registrieren Druck, Auflagewinkel und Reibung auf Männerwange oder Frauenwade. Dabei wird aus Gründen der Vergleichbarkeit ein Testgel benutzt. Es ist vor allem bei den borstigen Männerhaaren wichtig, die doppelt so dick sind wie Frauenhaare. Im trockenen Zustand reicht ihre Widerstandskraft an einen Kupferdraht heran. Die Seife im Gel macht das Haar weich und schafft auf der Haut einen Gleitfilm.

Eine Tür weiter, in einem völlig abgedunkelten Raum, filmen Ingenieure die Rasur in hundertfacher Vergrößerung mit Hochgeschwindigkeitsfilm, um zu beobachten, wie jedes einzelne Haare gekappt wird - dort beobachten sie regelmäßig den Hysteresis-Effekt.

Ein drittes Labor dient der Bewegungsdynamik. Sieben digitale Kameras umringen den Rasierer. Auf dem Griff des Hobels sitzt ein Leuchtpunkt, den die Linsen verfolgen. Ein Computer erfasst jeden Ansatz, Strich, Länge und Dauer. "Im Durchschnitt sollten Männer, wenn sie ein neues Modell in die Hand gedrückt bekommen, sich schneller, mit weniger Zügen rasieren - sofern der Rasierer denn wirklich besser ist."

Mit zwanzigtausendfacher Vergrößerung untersuchen die Forscher schließlich, wie gut die High-Tech-Schneiden den Einschlag im Bartwald überstehen. Die Klingen bestehen aus mit Platin veredeltem Stahl, dessen Oberfläche beschichtet und mit Kohlenstoffatomen gehärtet wird. Trotzdem lassen die Schneiden irgendwann nach - meist schon nach ein paar Tagen.

Das ist durchaus erwünscht: Die Firma lebt davon, Klingenköpfe zu verkaufen. Angesichts einer auf dem Bildschirm stark vergrößerten, schartigen Klinge, fragt einer der Journalisten, ob Gillette den "Quattro" von Wilkinson Schick ebenso rigoros geprüft hätte.

"Konkurrenzprodukte testen wir ständig", erklärt Powell etwas ausweichend. "Und?" "Und", hallt der Physiker wieder. Dann nimmt er fast Hab-Acht-Stellung an. "Wir haben nichts gesehen, was uns beunruhigen sollte." Die Pressesprecherin quittiert das im Hintergrund mit einem Lächeln.

Spionageversuche

Als die Tour in der kleinen Produktionsanlage endet, wo die experimentellen Rasierer entstehen, die unrasierte Versuchspersonen allmorgendlich im Nachbargebäude testen, sehen sich die Reporter vergebens nach einem Hinweis auf den Nachfolger des "Mach 3" um. Einer steckt klammheimlich Plastikteile ein, die eine Maschine im ohrenbetäubenden Stakkato in eine Tonne spuckt. Doch aus dem Gummi-Inlay für einen Griff allein lässt sich später nicht viel ersehen.

So heftet sich der Blick der Besucher noch einmal neugierig auf das Gesicht Powells, das am späten Nachmittag noch so glatt erscheint wie ein Babypopo. Der Physiker rasiert sich längst mit dem neuen Modell. Doch so angestrengt die Augen ihn auch inspizieren, außer Glätte ist da nicht viel zu entdecken.

© SZ vom 18.2.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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