Hartz IV:Hauptsache, nicht krank

Lesezeit: 4 min

Durch die Hartz-Reformen steigt die Zahl der Menschen ohne Krankenversicherung: Sie verlieren schnell jeden Schutz, und nur wenige Ärzte kümmern sich um sie.

Von Sebastian Jost

Die Geschichte klingt wie aus einem Entwicklungsland. Sein Freund, erzählt der Obdachlose Matthias Schneider (Name geändert), habe sich die Bänder im Fußgelenk gerissen. Normalerweise hätte ihm ein Arzt eine Schiene angelegt. Doch die Freunde haben den Fuß nur gekühlt, mehr nicht.

Wer keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe hat, muss sich um die gesetzliche Krankenversicherung selbst kümmern. (Foto: Foto: dpa)

Die beiden Obdachlosen sammelten abends das Trockeneis zusammen, das ein Fischladen in den Hinterhof schüttete. "Wenn es kein Eis gab, musste mein Kollege den Fuß in einen See halten." Die Geschichte spielt in München, einer Stadt mit 225 Orthopäden im Telefonbuch. Schneider und sein Freund gingen zu keinem von ihnen. Sie hatten keine Krankenversicherung.

So wie viele im Land. 188.000 Menschen ohne jeden Schutz gegen Krankheit zählte das Statistische Bundesamt im Mai 2003 - fast doppelt so viele wie 1995. In diesem Jahr soll die Zahl der Unversicherten sogar auf bis zu 300.000 gestiegen sein: Durch die Hartz-IV-Reform verlieren Jobsuchende ihre gesetzliche Krankenversicherung, wenn sie nicht Anspruch auf Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe haben.

Nach drei Monaten ohne Schutz

Das betrifft vor allem Arbeitslose, die ohne Trauschein mit einem Partner zusammenleben, der Einkommen oder Vermögen hat. Sie müssen sich selbst um die gesetzliche Versicherung kümmern. Wer das verbummelt, steht nach drei Monaten ohne Schutz da und muss sich um private Absicherung bemühen.

Sozialverbände kritisieren das: "Der Gesetzgeber denkt viele Probleme nicht bis zum Ende durch", sagt VdK-Präsident Walter Hirrlinger. Oft sind auch gescheiterte Unternehmer oder klamme Kioskbesitzer betroffen, welche die Prämien ihrer Privatversicherung nicht mehr zahlen können.

Unversicherte müssen für ihre Therapie selbst aufkommen. Wer das nicht kann, für den ist Deutschland eine Medizin-Wüste. Der wird nur behandelt, wenn er in Lebensgefahr ist. Oder er muss eine der wenigen Oasen in der Medizin-Wüste finden - großzügige Ärzte oder Hilfswerke, die eigentlich für Obdachlose oder Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis gedacht sind.

Fast wie bei anderen Ärzten

Zum Beispiel die Wohnungslosen-Praxis von Barbara Peters-Steinwachs in einem Münchner Unterkunftsheim. Hier sieht es fast aus wie bei anderen Ärzten: Ein Wartezimmer mit Medizinzeitschriften und der Tageszeitung vom Vortag, Janosch-Zeichnungen an der Wand, am Ende des Flurs eine Theke.

Nur tragen die Patienten hier oft speckige Jeansjacken oder haben eine Fahne. Dreimal pro Woche fährt die Ärztin mit einem zur Praxis umgebauten Krankenwagen durch die Stadt und untersucht Obdachlose.

Viele von ihnen könnten ihre Lage selbst verbessern: Sie haben Anspruch auf Stütze und damit auf Krankenversicherung. Aber sie stellen keinen Antrag, weil sie Ämtern misstrauen oder sich schämen. Viele wüssten auch nicht, dass man nach ein paar Monaten ohne Versicherung nur schwer eine neue Kasse finde, sagt Peters-Steinwachs.

Spezialärzte sind noch seltener

Allgemeinmediziner, die Unversicherte behandeln, gibt es wenige. Spezialärzte sind noch seltener. Ein Problem, das Irene Frey-Mann gut kennt. "Ich versuche, viel selber zu machen", sagt die Leiterin der zweiten Münchner Wohnungslosen-Praxis im Kloster St. Bonifaz. "Wenn ich etwas nicht weiß, schildere ich den Fall einem Kollegen vom Fach. Der sagt mir dann, was er machen würde."

An der Tür zum Wartezimmer hängt ein Zettel: "Hier werden auch Patienten behandelt, die die 10 Euro Praxisgebühr nicht bezahlen können." Gegenüber gibt es Duschen, eine Etage darüber Gratis-Suppe. "Eigentlich wollte ich in die Entwicklungshilfe", sagt Frey-Mann. "Die Arbeit hier kommt einem ein bisschen ähnlich vor."

Die kleinen Praxen der beiden Wohnungslosen-Ärztinnen sind für die Ärmsten der Armen ausgelegt. Beide behandeln zwar auch andere Patienten ohne Versicherung. "Aber wir können nicht ein Auffangbecken für alle Leute ohne Versicherung sein", sagt Peters-Steinwachs. Zudem sind zentrale Anlaufstellen rar.

In Berlin kümmert sich die "Malteser Migranten-Medizin" seit vier Jahren offiziell um Menschen ohne Krankenversicherung. Am Donnerstag eröffnet das Hilfswerk eine zweite Station in Köln, Anfang 2006 soll eine in München folgen.

Alternativen haben Unversicherte kaum. "Es ist das Recht des Arztes, jemanden wegzuschicken, der die Behandlung nicht bezahlen kann", sagt ein Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB).

"Das geht bis zum Gerichtsvollzieher"

Kliniken verlangen für planbare Operationen Vorkasse. Mindestens 6000 Euro, heißt es etwa im Krankenhaus Neuperlach in München. Nur in Notfällen müssen Ärzte und Krankenhäuser armen Unversicherten helfen. Was die Patienten nicht vor einer Rechnung bewahrt. "Das geht bis zum Gerichtsvollzieher", sagt eine Sprecherin des Hamburger Klinikverbunds LBK.

Nach Hochrechnungen einer privaten Krankenhausgruppe bleiben versicherungs- und mittellose Patienten jährlich Klinikrechnungen von bis zu 300 Millionen Euro schuldig.

Viele ohne Krankenkasse wollen es aber nicht auf Mahnungen ankommen lassen. Sie gehen einfach nicht mehr zum Arzt. So auch Manfred Perner (Name geändert). An seinem Wohnzimmerschrank hängen lange Listen mit Aldi-Produkten. Der 66-Jährige hält jede Preisveränderung fest: Die Fischstäbchen sind 20 Cent billiger geworden, dafür kostet das Toilettenpapier jetzt 96 Cent mehr.

Ordentliche Zahlenkolonne

Perner muss seine Ausgaben kontrollieren. Wenn man ihn fragt, wie es um seine Finanzen stehe, holt er eine ordentliche Zahlenkolonne hervor. Er bekommt 698,66 Euro Rente pro Monat. Miete 327,22, Zeitungsabo 18,20, Strom 25,50 und so weiter. Für Essen, Kleider, Kommunionsgeschenke für die Enkel bleiben keine 250 Euro.

Vor drei Jahren hat Perner aufgehört, Krankenkassenbeiträge zu zahlen. Die Mahnungen warf er weg. "Ich war plemplem damals", sagt er. "Ich bin erst aufgewacht, als ich die Kündigung hatte."

Perner schreit fast. Dann muss er tief Luft holen. Das fällt ihm schwer. Vor einigen Jahren haben sie ihm einen Kropf an der Schilddrüse wegoperiert. "Der scheint wieder da zu sein", sagt Perner und tastet an seinen Hals. "Wenn ich was Schweres hebe, habe ich das Gefühl, ich würde ersticken." Beim Arzt war er seit 2002 nicht mehr. "Wer soll das bezahlen?"

So mancher Unversicherte flüchtet sich in Zechprellerei. Eine Münchner Klinik berichtet von Patienten, die bei der Einlieferung eine falsche Adresse angeben, damit die Rechnungen ins Leere laufen.

Lügen in der Apotheke um die Ecke

Und Manfred Perner belügt seit einem Jahr den Apotheker um die Ecke. Er kauft sich dort die Tabletten, die er nach seiner Schilddrüsen-Operation bekommen hat. "Verschreibungspflichtig" steht auf der Packung. "Seit einem Jahr sage ich: Das Rezept reiche ich nach."

© SZ vom 28.05.05 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: