Großbritannien:Ende einer Schulden-Party

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Großbritannien ist Europas Konsumland Nummer eins, nun erschüttert die Krise der Bank Northern Rock die Nation - und sät Zweifel am beliebten Leben auf Pump.

Andreas Oldag

Mit zittrigen Händen zählt Paul Marshall sein Geld. Es sind druckfrische 20-Pfund-Scheine, auf denen die Queen würdevoll in die Ferne schaut.

Marshall lässt die Banknoten durch die Finger gleiten. Immer wieder hält er die graublauen Scheine mit prüfenden Blick gegen das Licht. "100, 200, 300", murmelt er. Auf seinem abgeschabten Küchentisch hat er die Banknoten in kleinen Stapeln ausgebreitet. Das sieht aus wie beim Monopoly-Spiel.

Es sind allerdings keine Millionen für einen Hauskauf in der Schlossallee, sondern nur 4500 Pfund. Marshall zählt seine Ersparnisse. "Ich bin froh, dass ich mein Geld hier zu Hause habe" sagt der 74-jährige Rentner.

Ein hartes Leben

Der alte Mann mit den schlohweißen Haaren und tiefen Falten im Gesicht wohnt in einer bescheidenen Sozialwohnung im Süden Londons. 40 Jahre hat er als Lastwagenfahrer gearbeitet. Es war ein hartes Leben. Der Rücken ist krumm. Die Augen blinzeln durch dicke Brillengläser.

In seiner Zwei-Zimmer-Wohnung hängt der Geruch von altem Frittierfett in den Gardinen. Er habe keine großen Wünsche mehr, sagt Marshall. Mit seiner bescheidenen Rente von 900 Pfund monatlich könne er sich aber ganz gut über Wasser halten, meint er.

Vor wenigen Tagen ist für Marshall wie für Tausende anderer Kunden der angeschlagenen britischen Bank Northern Rock eine Welt zusammengebrochen. Ihr mühsam Erspartes schien nicht mehr sicher zu sein.

Fünf Stunden Schlange gestanden

Erst waren es Gerüchte, dann Zeitungsmeldungen und Fernsehberichte, die Marshall schließlich zu seiner Northern Rock Filiale getrieben haben. Fünf Stunden stand er dort in einer langen schlangen Schlange empörter Kunden - Rentner, Hausfrauen, Postbeamte - die so genannten kleinen Leute, die zur treuesten Klientel der 1860 gegründeten Bank zählen.

Sie wollten alles nur eines: Ihr Geld zurück. Der Supergau für eine Bank. Der Angestellte am Bankschalter von Northern Rock versuchte vergeblich, Marshall dazu überreden, das Konto nicht anzurühren. "Geben Sie mir meine Piepen", sagte Marshall empört und bestand auf prompte Auszahlung.

Nun hortet er seine Ersparnisse lieber in seiner Wohnung, auch wenn dies keine Zinsen abwirft. Ein Versteck muss er noch finden. "Unter der Matratze ist mir zu unsicher. Vielleicht stecke ich mein Geld in die große Wanduhr", meint er.

"Die kümmern sich doch nur um Großverdiener"

Auf die Politiker ist der Rentner seit seiner hastigen Kontoauflösung nicht gut zu sprechen: Die Labour-Regierung habe den ganzen Schlamassel mit Northern Rock mitverursacht, ist Marshall überzeugt. "Die kümmern sich doch nur um Großverdiener", wettert er.

London, im September 2007: Da kann sich Supermodel Kate Moss bei einer wilden Party das Dior-Kleid zerfetzen, Chelseas kapriziöser Fußball-Manager Jose Mourinho das Handtuch werfen oder ein neues Gerücht über das Verschwinden der kleinen Madeleine und ihrer verzweifelten Eltern auftauchen - alles ist plötzlich zur Nebensache geworden - in Großbritannien geht es in diesen Tagen vor allem ums Geld. Alles andere ist plötzlich zur Nebensache geworden.

Die Nation, die einen besonders ausgeprägten Sinn fürs Materielle entwickelt hat und dabei vielleicht nur noch von den Amerikanern übertroffen wird, zweifelt an sich selbst. Eine Gemütslage, die man sonst nur von den Deutschen kennt,

Tief getroffen

Die Bilder von Warteschlangen vor Northern Rock, die eher an Zeiten der Weltwirtschaftskrise und der Bankenzusammenbrüche Anfang der dreißiger Jahre erinnerten, scheint Europas Konsum- und Schuldenmacher-Nation Nummer Eins tief getroffen zu haben.

Im Gegensatz zu Rentnern und Geringverdienern wie Marshall konnten sich die meisten Briten in den vergangenen Jahren zwar mehr leisten als je zuvor. Nun aber müssen sich viele fragen: Ist die Konsum-Party zu Ende?

War der Wirtschaftsboom, der auch zu einem beispiellosen Anstieg der Immobilienpreise führte, nur eine Schimäre? Ist die Labour-Regierung sogar mit Schuld daran, dass die Konsum-Hybris nun zur Nemesis werden könnte? Ein sichtlich nervöser Premier Gordon Brown versicherte im Fernsehen den Briten immer wieder, dass Northern Rock ein Sonderfall sei und die amerikanische Immobilien- und Kreditkrise keineswegs auf Großbritannien überschwappen werde.

Vorwürfe gegen Labour

Doch das sieht der konservative Oppositionsführer David Cameron ganz anders. Unter Labour seien die Briten in eine Schuldenfalle getappt, polterte Cameron im Parlament. Für ihn ist klar, dass der Wirbel um Northern Rock nur ein Pflasterstein auf dem Weg in den wirtschaftlichen Niedergang ist - verursacht durch die falsche Politik des früheren Finanzminister Brown.

Wenige Kilometer vom täglichen Politiktheater in Westminster entfernt, im kleinbürgerlichen Stadtteil Battersea, dort wo die Reihenhäuser aus viktorianischer Zeit die schmalen Straßen säumen, interessieren sich die Menschen nicht für die gegenseitigen Schuldzuweisungen der Politiker. Viel wichtiger ist ihnen, wie hoch zum Beispiel der örtliche Immobilienmakler das Eigenheim taxiert.

David Wootton und seine Lebensgefährtin Elspeth Elsdon wollten ihre Drei-Zimmer-Altbauwohnung verkaufen, um sich etwas Größeres zu leisten. 495.000 Pfund (etwa 730.000 Euro) ist der geforderte Preis.

Aus den Tagen wurden bereits fünf Wochen

Der Makler schien keinen Zweifel daran zu haben, innerhalb weniger Tage einen Interessenten zu finden. Aus den Tagen sind nun allerdings bereits fünf Wochen geworden. Insgesamt hätten 15 Besichtigungen stattgefunden, erzählt der 29-jährige Wootton.

"Vielleicht sind die Leute vorsichtiger geworden, weil die Hypothekenzinsen gestiegen sind", vermutet der gelernte Buchprüfer. Auch die Krise um Northern Rock könnte dazu beigetragen haben, meint Elspeth Elsdon.

Den Preis für ihre Wohnung heruntersetzen wollen sie aber auch nicht. Das junge Paar hat die geforderte Kaufsumme bereits für seine weiteren Pläne fest eingeplant. Nun prangt vor dem roten Backsteinhaus immer noch ein großes Schild des Maklers mit der Aufschrift "For sale" (Zum Verkauf).

Traumhafte Wertzuwächse

Selbst in gutbürgerlichen Stadtteilen Londons, in denen Immobilien geradezu traumhafte Wertzuwächse von zehn Prozent und mehr pro Jahr hatten, bröckeln nun die Preise.

Es ist zwar lange noch kein Crash. Noch immer ist London einer der teuersten Städte Europas. Und dies wird nach Ansicht von Experten auch so bleiben. Aber selbst wenn der Preisboom nur nachlässt, ist das für viele Briten schon eine schmerzhafte Erfahrung. Für sie war es zu Gewohnheit geworden, ihre Eigenheime kurz nach einem Kauf schon wieder gewinnbringend weiter verkaufen zu können.

Auf der "Immobilien-Leiter" nach oben klettern, hieß dieses Spiel mit garantiertem Jackpot. So schien auch der soziale Aufstieg aus der bescheidenen Studentenbude in die komfortable Familienvilla allenfalls eine Frage der Zeit zu sein. "Viele Briten haben sich daran gewöhnt, dass ihre Wohnungen und Häuser eine Art Gelddruckmaschine sind. Das ist jetzt sicherlich vorbei", meint ein Banker im Londoner Finanzviertel.

Leben auf Pump wird schwieriger

Das deutliche Knirschen am Immobilienmarkt hat noch weitere Folgen: Das Leben auf Pump wird für viele Inselbewohner schwieriger, seitdem die Banken zurückhaltender geworden sind, Eigenheime mit hohen Summen zu beleihen.

Ohnehin sind die Briten Europameister im Schuldenmachen. Die Pro-Kopf-Verschuldung - ohne Hypothekenkredite - beträgt nach einer Studie des Marktforschungsunternehmens Datamonitor etwa 4700 Euro. Das ist doppelt soviel wie auf dem europäischen Kontinent. Laut Datamonitor haben die Briten ein Drittel aller ungesicherten Kredite in Europa zu bedienen.

"Jetzt kaufen, später zahlen", sei das Motto der britischen Verbraucher, sagt David Marsh, Autor der Studie. "Hier gibt es einen großen kulturellen Unterschied gegenüber den West-Europäern." Großbritannien sei dem amerikanischen Modell gefolgt. Es existiere eine Konsumgesellschaft, in der alles sofort gekauft werden kann und nichts gespart werden muss.

Zu opulentem Lebensstil verführt

Doch der schnelle Besitz auf Pump, vor allem mit der Kreditkarte, verführt viele Konsumenten dazu, einen Lebensstil zu führen, den sie sich eigentlich nicht leisten können.

Die Kehrseite des britischen Kaufrauschs ist ein steiler Anstieg der persönlichen Insolvenzfälle. Beim Citizens Advice Bureaux (CAB), einer landesweiten gemeinnützigen Organisation, ist der Andrang von Ratsuchenden, die in die Schuldenfalle geraten sind, kaum noch zu bewältigen. 1,4 Millionen Menschen mit Geldsorgen versuchte CAB 2006 zu helfen. Ein Anstieg um elf Prozent gegenüber dem Vorjahr.

"Immer mehr Menschen sind in einer verzweifelten Lage. Die Schulden wachsen ihnen über den Kopf", beschreibt CAB-Chef David Harker die Lage. Vor allem die Leitzinserhöhungen der Bank of England, zuletzt auf 5,75 Prozent, verteuerten jetzt deutlich die Kredite. "Wir haben Klienten, die müssten mehr als 77 Jahre lang ihre Schulden abstottern. Das ist natürlich absurd", sagt Harker.

Persönliche Insolvenz

Betty Smith (Name von der Redaktion geändert) aus dem Londoner Stadtteil Brixton ist eine von 107.000 Briten, die im vergangenen Jahr ihre persönliche Insolvenz angemeldet haben.

Das ist ein gesetzliches Verfahren, das den Überschuldeten vor dem unmittelbaren Zugriff rabiater Gläubiger schützt. Ein bestellter Insolvenzberater achtet darauf, dass den Bankrotteuren nur das wirklich Lebensnotwendige bleibt. Einen großen Teil des Verdienstes müssen sie abführen, um die Schulden zu begleichen.

"Ich habe mich einfach verschätzt und wild darauf los bestellt", sagt Smith. Die alleinerziehende Mutter besaß drei Kreditkarten, mit denen sie vorzugsweise bei einen der zahlreichen TV-Shopping-Kanäle einkaufte. Am Ende türmten sich die Schulden auf knapp 30000 Pfund. "So richtig weiß ich gar nicht, wo das Geld geblieben ist", meint die Sekretärin und nestelt an einer funkelnden Kette, die ebenfalls ein Verkaufssender angeboten hatte.

"Nur Kleinigkeiten gekauft"

"Eigentlich habe ich nur Kleinigkeiten für mich und meine Kinder gekauft." Schuldenfalle, Immobilienflaute - dass alles kann Paul Marshall nicht beeindrucken.

Er habe sich in seinem Leben vom "Konsumquatsch" nicht anstecken lassen, sagt der Rentner. Vielleicht sei das noch die alte britische Tugend fügt er hinzu und schiebt dann einen Stuhl durch das Wohnzimmer. Sein Geld, so hat er jetzt entschieden, wird er nun doch in der Wanduhr verstecken.

© SZ vom 22.9.07 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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