Flatcam:Die Augen des Internets

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Mit neuer Technik lassen sich Kameras so flach und billig herstellen, dass sie allgegenwärtig werden könnten - zum Beispiel eingenäht in die Kleidung. Doch wenn überall Kameras lauern - was ist dann mit der Privatsphäre?

Von Sebastian Gluschak, München

Fünf Forscher sitzen um einen Tisch. Ihr Interesse gilt einem schwarzen Mikrochip auf einer grünen Computerplatine, die Konstruktion wirkt improvisiert. Knapp einen Meter entfernt von ihr liegt eine Plüscheule. Auf einem Bildschirm erscheint ein pixeliges, aber erkennbares Bild der Eule: ein Foto. Das Forscherteam jubelt, als sei ihnen soeben ein Durchbruch gelungen. Die beschriebene Szene ist in einem Labor-Video der texanischen Rice-Universität zu sehen. Aber sind sie mit ihrer Erfindung nicht zu spät?

Das Aufregende ist aber nicht das Bild, sondern die Kamera, mit der es gemacht wurde. Die Flatcam, an der die Wissenschaftler forschen, hat ungefähr den Durchmesser einer Ein-Cent-Münze und ist flacher als eine Kreditkarte. Sie macht auch dann Aufnahmen, wenn sie verbogen wird. Das eröffnet neue Möglichkeiten.

Die Mikrotechnik könnte bestehende Überwachungskameras ersetzen und sie für Einbrecher quasi unsichtbar machen. Eingenäht in die Dienstkleidung von Polizisten wäre mehr Transparenz bei deren Einsätzen möglich. Für die mobile Technik der Zukunft, könnte die Flatcam die Selfies liefern. Richard Baraniuk, Informatik-Professor an der Rice-Universität und Initiator des Projekts, erklärt den Grundgedanken: "Gewöhnliche Kamerasysteme fangen Licht durch ein Objektiv ein, das in einer gewissen Distanz zum Fotofilm oder der Sensorplatte stehen muss. Je kleiner die Kameras gebaut werden, desto geringer wird der Lichteinfall und damit die Bildqualität." Eine neue Technik soll diese Einschränkung nun umgehen: Sein Team wolle "Objektive durch Algorithmen ersetzen" und so die Fotografie revolutionieren.

Erst der Algorithmus fügt die Einzelaufnahmen zu einem Bild zusammen

"Neben der Miniaturform hat die Flatcam den Vorteil sehr geringer Produktionskosten, da wenig Material und keine Montage benötigt werden", sagt Baraniuk. Wenn sie einmal in Serie produziert werde, könnten die Stückkosten im Centbereich liegen. Die Vorlage für diese High-Tech-Entwicklung geht zurück auf die Anfänge der Fotografie. Schon vor fast 200 Jahren hat Joseph Nicéphore Nièpce Fotografien hergestellt - ebenfalls ohne Objektiv. Das Prinzip in Kurzform: Eine Holzkiste wird auf einer Seite mit einem stecknadelgroßen Loch versehen, auf der gegenüberliegenden Innenseite befindet sich das Fotomaterial. Dieses Material reagiert sensibel auf Licht. Lässt man durch die Öffnung Lichtstrahlen einfallen, treffen sie auf das Fotomaterial und projizieren darauf ein Abbild der Realität, das auf dem Kopf steht. Fertig ist das Foto.

Die Flatcam-Forscher erfinden die Lochkamera jetzt auf Mikroebene neu. Statt eines Lochs gibt es Hunderttausende mikroskopisch kleine Öffnungen auf der einen Quadratzentimeter großen Kunststoffmaske. Diese liegt in weniger als einem Millimeter Abstand vor einer Sensorplatine, der digitalen Version des Fotofilms. So entstehen gleichzeitig hunderttausende Fotos, die jeweils nur einen oder zwei Bildpunkte groß sind. Fügt man diese zusammen, ergibt das vorerst nur ein verschwommenes Bild. Weil der Abstand zwischen Öffnung und Sensor so gering ist, werden die Einfallstrahlen hinter der Maske nicht ausreichend gestreut. Die projizierten Lichtstrahlen sind zu dicht beieinander, um ein realitätsnahes Foto zu erzeugen.

Die Wissenschaftler nennen das den Mulitplex-Effekt. Der Schlüssel zum erkennbaren Foto ist ein Algorithmus. "Das System glättet sozusagen die einzelnen Aufnahmen und fügt sie zu einem Gesamtbild zusammen", sagt Ashok Veeraraghavanvom Forschungsteam. So entstehen digitale Mosaikwerke mit 0,5 Megapixeln. Auf den bisher produzierten Fotos mit dem Prototypen sind die Objekte gut erkennbar, mehr aber auch nicht. Eine gewöhnliche Laptopkamera erzeugt bessere Bilder. Wozu ist die Kamera also gut?

"Wir sehen die Anwendung aktuell vor allem in der visuellen Interaktion zwischen Geräten", sagt Baraniuk. Ein Beispiel aus der Lagerhaltung: In die Wand eines Warenregals in einem Schuhladen wird die flache Kamera integriert und filmt den Lagerbestand eines gewissen Modells. Verändert sich der Bestand, leitet sie diese Information automatisch an das Lagerhaltungssystem weiter. Ähnliches lässt sich den Forschern zufolge zwar jetzt schon realisieren, aber zu weitaus höheren Kosten.

"Die algorithmische Berechnung wird bei uns sehr früh in den Prozess eingebunden, und als Hauptbestandteil der Sensorik genutzt. Dadurch können wir auf physische Sensorelemente wie das Objektiv verzichten und das Gerät verkleinern", sagt er. Diese Vermischung aus Hard- und Software sei auch in anderen Technologiebereichen zu erwarten. Das kalifornische Technologieunternehmen Rambus testet unter dem Namen Lenseless Smart Sensor (LSS) eine ähnliche Technologie für die kommerzielle Nutzung. Zum Beispiel in Hochhäusern: Die Kameras werden überall im Gebäude eingesetzt, um Bewegungen von Menschen nachzuvollziehen. So können Lichtschalter und Heizungen effizienter genutzt werden. Die Privatsphäre soll durch die eingeschränkte Bildqualität gewahrt bleiben.

Der LSS-Chefentwickler bei Rambus, Patrick Gill, erklärt zu seinem Ziel, "jedem digitalen Gerät, unabhängig von seiner Größe, Augen hinzuzufügen", sagte er der MIT Technology Review. Noch liegt die flächendeckende Anwendung der flachen Kameras in der Zukunft. Wenn es soweit ist, werden die Hersteller auch das Thema Datensicherheit und Privatsphäre berücksichtigen müssen. Denn schwer sichtbare und fast kostenlose Kameras könnten zu einer weiteren exponentiellen Vermehrung visueller Daten führen. Was passiert mit dem ganzen Bildmaterial? Wie wird sichergestellt, dass die Daten nicht in falsche Hände geraten? Jüngste Hacks demonstrieren die Gefahr von vernetzten Geräten im Internet der Dinge.

© SZ vom 09.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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