Finanzberatung:Raus aus den Schulden

Lesezeit: 4 min

Verzweifelt, gekämpft, gewonnen: Die Berlinerin Melek war bis über beide Ohren verschuldet. Bei der Schuldnerberatung fand sie Hilfe.

Stephanie Sartor

Zimmer 3093 ist das letzte des langen Flures mit dem grauen Linoleum-Boden und den beigen Stühlen. Endstation. Wer hierher kommt in die Kreuzberger Schuldnerberatung weiß nicht mehr weiter. Vor zwei Jahren lief Melek B.* diesen Flur entlang. Über ihr grelle Neon-Röhren, vor ihr eine ungewisse Zukunft, hinter ihr ein langer Weg. Die damals 25-Jährige hatte 35.000 Euro Schulden und jegliche Hoffnung auf ein sorgenfreies Leben bereits begraben.

(Foto: Foto: ddp)

"Dumpfe Ohnmacht"

"Das Einzige was ich gespürt habe, war eine dumpfe Ohnmacht", erinnert sich die 27-jährige Frau mit den pechschwarzen Locken. Melek sitzt auf ihrem kaffeebraunen Ecksofa, das auf einem weichen Flokati mit dunkelbraunen Ornamenten gegenüber einer Fensterfront steht. Auf 60 Quadratmetern hat Melek sich ein neues Leben eingerichtet. Die Wohnung ist hell, die Strahlen der Herbstsonne tanzen in Meleks Haar. Die Wände sind in einem Latte-macchiato-Braun gestrichen, in der Ecke neben dem weißen Hochglanz-Sideboard leuchtet eine Ikea-Lampe, Model "Storm". Die Frau mit den großen dunklen Augen trägt einen lila Pulli, darunter ein weißes T-Shirt. Sie lächelt. An den Wänden hängen Fotos vom letzten Urlaub mit Melek und ihrem Freund, mit dem sie zusammenlebt. Sie lachen auf den Bildern. Die Sonne scheint, das Meer glitzert, die Haare zerzaust vom Wind.

Dass sie einmal wieder glücklich sein würde, hatte Melekt nicht mehr geglaubt. "Aus Dummheit", wie sie heute sagt, hätte sie fast ihr Leben ruiniert. Sie bürgte für den 30.000-Euro-Kredit eines Bekannten. Sie fühlte sich von ihm unter Druck gesetzt und sagte schließlich zu. Naiv sei sie gewesen, weil sie sich dazu hatte überreden lassen. Vor allem, weil Melek in ihrem Job als Arzthelferin gerade mal 900 Euro verdiente. Als dann der Bekannte die Raten nicht bezahlen konnte, bekam Melek Post von der Bank. Und schließlich stand sie als zweite Kreditnehmerin mit einem Schuldenberg von 30.000 Euro da. Hinzu kamen noch offene Bestellungen bei Versandhäusern, die Melek per Ratenkauf finanziert hatte. Insgesamt 35.000 Euro Schulden.

"Es gab Zeiten, da konnte ich mir nicht einmal mehr etwas zu essen leisten", erinnert sich Melek. Wenn das Geld Mitte des Monats weg war, ging sie zu ihrer Oma essen - oder aß gar nichts. Melek schämte sich. Nur ihrem Freund, dessen Eltern, ihrer Mutter und ihrer Großmutter vertraute sie sich an. Anderen Freunden hat sie nichts erzählt.

Aus ihrer alten Wohnung musste sie raus, die Miete war zu hoch. Doch wegen des Schufa-Eintrages wurde sie von allen Vermietern abgewiesen. "Ich hatte einmal einen Riesen-Fehler gemacht, der mir jahrelang hinterherhängt, obwohl ich eigentlich ein zuverlässiger Mensch bin", sagt sie. "Daran wäre ich beinahe verzweifelt", sagt Melek, die eben noch lächelte. Ihre Miene verfinstert sich, als würden die Gefühle von damals wieder hochkommen. Sie blickt aus dem Fenster ihrer Wohnung in den Berliner Himmel. Melek atmet zweimal tief durch. Dann schüttelt sie den Kopf, mehr zu erahnen als zu sehen.

Irgendwo zwischen Vergangenheit und Zukunft

In der Wohnung lassen sich die Spuren der Vergangenheit nicht ganz vertuschen. Ein paar Möbel fehlen noch. Hier und da noch Farbe. Ein Schwebezustand zwischen Vergangenheit und Zukunft. Momentan hat Melek nicht genügend Geld, um ihr Zuhause vollständig einzurichten. Sobald sie das hat, wird sie auch die letzten Schatten der vergangenen Jahre überpinseln. "Das schaff ich schon", sagt Melek und nickt. Das Lächeln ist wieder da.

Heute kann sie das, lächeln. Sie hat es geschafft. Der Weg, den Melek hinter sich hat, steht vielen Deutschen noch bevor: Mehr als drei Millionen Haushalte sind einer aktuellen Studie des Statistischen Bundesamtes zufolge verschuldet, weitere 1,2 Millionen akut überschuldungsgefährdet. "Ich kann allen Betroffenen nur raten, zum Schuldnerberater zu gehen, egal wie aussichtslos die Situation aussieht", sagt Melek heute.

Das hat auch sie gerettet. Als sie nicht mehr weiterwusste, hatte sie jemanden, der ihr die Richtung wies: Kemal Ilhan.

Lesen Sie weiter, welche Konsequenzen Melek für sich zieht.

Melek betritt Anfang 2006 das Büro des Schuldnerberaters. Sie lässt den tristen grauen Flur hinter sich und tritt in Zimmer 3093. Ihr gegenüber sitzt Kemal Ilhan, seit zehn Jahren Schuldnerberater.

Berater Kemal Ilhan: "Es gibt einfach zu wenige Beratungsstellen." (Foto: Foto: St. Sartor)

In seinem Büro türmen sich Aktenordner, jede halbe Stunde erscheint ein neuer Klient. Die meisten müssen bis zu sechs Monate auf einen Termin warten. Immer mehr Menschen suchen den Weg in das Büro, um sich professionelle Hilfe zu holen. Seit 1990 hat sich die Zahl der überschuldeten Privatpersonen mehr als verdoppelt. "Es gibt einfach zu wenige Beratungsstellen", klagt Kemal Ilhan.

Die Sonne scheint durch das Fenster seines Büros. Draußen sieht man die St.-Bonifatius-Kirche. In der Ecke stehen eine Kaffeemaschine und ein Teekocher. Seit zwei Jahren berät und unterstützt Kemal Ilhan Melek hier. Er erarbeitet mit ihr einen Haushaltsplan, in dem penibel alle Einnahmen und Ausgaben aufgelistet sind. Der Schuldnerberater wühlt sich wochenlang durch Meleks Unterlagen - mit einem niederschmetternden Ergebnis: Pro Monat blieben Melek gerade einmal 3,40 Euro pfändbares Einkommen.

Strenges Sparprogramm

Ein außergerichtlicher Einigungsversuch mit den Gläubigern scheitert. Die Privatinsolvenz scheint die einzige Lösung zu sein. Im September 2006 stellt Kemal Ilhan den Antrag. Melek steht alles andere als eine rosige Zukunft bevor: sechs Jahre lang strenge Ausgabendiziplin. Keine Schulden machen, keine Kredite, keine Kontoüberziehung, keine Ratenkäufe. Danach aber schuldenfrei.

Doch dann, kurz vor der Eröfnung des Insolvenzverfahrens, kann sie neuen Mut schöpfen. Ihre Mutter und die Eltern ihres Freundes legen zusammen. Knapp 4500 Euro. Kemal Ilhan versucht es mit einem neuen Vergleich. Der Vorschlag an die vier Gläubiger: Melek zahlt 4500 Euro und alle Schulden sind beglichen. Sein Druckmittel: Lassen sich die Gäubiger nicht auf den Deal ein, bekommen sie gar nichts. Sie lassen sich darauf ein.

Und Melek bekommt eine neue Chance, eine neue Zukunft. "Das alles habe ich nur dem Herr Ilhan zu verdanken", sagt sie und lächelt. Endlich wieder schuldenfrei. Endlich wieder nach vorne schauen.

Derzeit holt Melek ihr Abitur nach. "Ich werde nie wieder in so eine Situation kommen!" Da ist sie sich sicher. Auf Raten wird sie nichts mehr kaufen. Auch wenn es dann noch etwas dauern wird, bis ihre Wohnung fertig möbliert ist. Im Juli 2007 verlässt Melek zum letzten Mal Zimmer 3093. Sie geht den Flur mit den beigen Stühlen entlang. Über ihr die Neon-Röhren, hinter ihr ein langer Weg. Und vor ihre eine Zukunft. Ohne Schulden.

*Name von der Redaktion geändert

© sueddeutsche.de/mel - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: